O-Ton

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Moers-Festival 2020

Beethoven zum Einstieg

Am ersten Festival-Tag heißt es vor Ort erst mal, sich in gänzlich ungewohnte Abläufe einzufügen, mit dem eigenen Unbehagen auszukommen und den Gedanken aufzulösen, hier schlicht einer Fernsehaufzeichnung beizuwohnen. Das geht auch den Festival-Mitarbeitern kaum anders, obwohl die sich eigentlich freuen können. Schließlich erreicht das Festival mehr Menschen weltweit, als es vor Ort jemals möglich wäre.

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Lange hatte das Organisationsteam um den künstlerischen Leiter Tim Isfort gezögert, das diesjährige Moers-Festival abzusagen. Erst spät wurde klar, dass ein Festival möglich sein könnte, das es so – jedenfalls in Moers – noch nicht gegeben hat. Und im Endspurt konnte schließlich noch erreicht werden, dass wenigstens Vertreter der Presse am Geschehen vor Ort teilnehmen können. Denn eines stand recht früh fest: Das Publikum muss in diesem Jahr draußen bleiben. Keiner der Verantwortlichen wollte damit berühmt werden, am Ende eine Hochburg des Corona-Virus gebaut zu haben. Und damit war auch die Strategie vorgegeben. Die Musiker treten in der Moerser Eventhalle live und unter echten Konzertbedingungen auf – für sie glaubt man, sicherstellen zu können, dass keiner von ihnen einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt werden wird – während die Zuschauer das Geschehen in der Halle live und in Farbe am heimischen Monitor verfolgen können und so ebenfalls gesund bleiben, jedenfalls, so weit es das Festival angeht. Möglich wurde das, weil Arte Concert in Koproduktion mit dem Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks Livestreams zusagte.

Unter den Vorzeichen „strenger Auflagen“ muss man dem Festival schon im Vorfeld jeden Faux pas verzeihen. Aber anstatt sich darauf auszuruhen, haben die Organisatoren wirklich alles unternommen, um die Veranstaltung „virensicher“ zu gestalten. Fast alle Wege sind als Einbahnstraßen eingerichtet, allüberall finden sich Desinfektionsmittelspender, zusätzliche Ordner sind bestens instruiert und nehmen ihre Aufgaben gewissenhaft wahr. Dabei sollen die Gäste so wenig wie möglich eingeschränkt werden. Zwar gibt es Stühle für die Pressevertreter, aber sie dürfen sich frei bewegen. In allen geschlossenen Räumen gilt Maskenpflicht. Wie blödsinnig die ist, zeigt sich auch hier alsbald ebenso sicher wie in jedem Supermarkt. Die Träger wähnen sich in Sicherheit und setzen Regel Nummer eins außer Kraft, nämlich, Abstand zu halten. Das ist menschlich. Und weil die Infektionszahlen seit Wochen rückläufig sind, muss man dem vielleicht auch nicht ganz so viel Bedeutung zumessen. Das Festival jedenfalls hat nicht mit Warnhinweisen gespart. Auch die Neueinrichtung der Halle macht Sinn. Vor der großen Tribüne, auf der sich sonst die Zuschauermengen tummeln, ist ebenerdig eine kleinere Bühne eingerichtet, ihr gegenüber ist eine größere Bühne abgegrenzt, auf der auch Plexiglas-Wände für Bläser vorgesehen sind. Im Mittelraum befinden sich die Technik-Stationen und im Hintergrund eine Greenscreen-Wand. Denn trotz der Krise will auch diese Festival-Ausgabe nicht auf kleinere Gimmicks in Form von Projektionen verzichten. Im Foyer gibt es zudem noch ein Studio für Interviews mit den Künstlern.

Nach den Auswüchsen im vergangenen Jahr hat sich das Festival bemüht, den massenhaften Zustrom von Fotografen dieses Mal zu begrenzen. Das ist nur mäßig gelungen, wieder sind die Fotografen in der Überzahl. Sie werden gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass Pianist Chilly Gonzales nicht fotografiert werden darf. Später wird man den Musiker im Interview erleben und erstaunt sein, dass er dieser unfreundlichen Geste fähig ist. Zumal jeder einzelne Zuschauer daheim in der Lage ist, beliebig viele Bildschirmfotos anzufertigen. Aber auch die Fotografen, die ja gerade mit diesen Fotos ihr Geld verdienen, lassen sich von solch unüberlegten Wünschen die Laune nicht verderben. Und unterlassen auch jede Diskussion über das deutsche Presserecht.

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Stattdessen stürzen sich die Bildreporter auf das Eröffnungskonzert, das von The Dorf gespielt wird. The Dorf ist eine Band, die 2006 von Jan Klare gegründet wurde, sich dem Jazz, Krautrock und experimenteller Musik verpflichtet fühlt. Rund 25 Musiker treten auf die Bühne, um fulminante Auftritte zu absolvieren. Im Beethoven-Jahr soll es denn auch „Beethoven-Musik“ sein. Und so gibt es die Fünfte Symphonie – so weit die Theorie und wirklich sind auch hier und da Motive und Themen erkennbar. Als Freund klassischer Musik wird man sich mit dieser Interpretation schwerlich anfreunden können. Als Jazzer und Anhänger von Improvisation mag das anders sein. Da gibt es einiges zu entdecken, auch wenn vieles einfach im Lärm untergeht. Sorgsam wird der Auftritt zweier Schlagwerke, einer Bläsergruppe, von Streichern und mehreren E-Gitarren und -Bässen sowie einer menschlichen Stimme, die so gut wie nicht hörbar ist, von den Kameras verfolgt, und vermutlich wird man später von einem eindrucksvollen Konzert sprechen.

Das ist allerdings so ohrenbetäubend laut, dass der nachfolgende Auftritt auf der kleineren Bühne nahezu untergeht. Es dauert eine Weile, bis man für die leise Virtuosität des Auner-Quartetts, das eigens aus Wien angereist ist, wieder ein Gehör entwickeln kann. Und so geht das Streichquartett Heiliger Dankgesang Beethovens zwischen dem Rückgewinn von Konzentration und dem zunehmend schwerer werdenden Atem unter der so genannten Community-Maske nahezu unter. Im zweiten Teil des Auftritts kommen Streicher des Landesjugendorchesters NRW hinzu, um die Bagatellen von Beethoven zu interpretieren. Dazu bedarf es weniger der Virtuosität denn der Präzision. Und die liefern die jungen Musiker grandios. Ein wunderbarer Auftritt, auch wenn er nicht so recht in den Kontext des Festivals passen will. Aber Gratulation an die Programmverantwortlichen, dass sie den Mut aufgebracht haben. Eine echte Bereicherung.

Kurz darauf bleibt es thematisch angeblich bei Beethoven. In nine for three liefert Wolfgang Mitterer Arrangements ab, die auf den Symphonien des Jubilars fußen sollen. Vergisst man die thematische Angabe mal, bekommt man mit der Unterstützung von Herbert Pirker am Schlagzeug und Wolfgang Puschnig mit Saxofon und Querflöte großartige Musik geliefert, die von elektronischen Einspielungen am Flügel unterstützt wird.

Der Abend geht noch lange weiter. Für die Zuschauer an den Bildschirmen dieser Welt. In der Halle spielt sich so etwas wie Routine ein. Trotzdem, die Zuschauer fehlen. Mehr als das Gefühl, an der Aufzeichnung einer Fernsehshow teilzunehmen, will sich nicht einstellen. Und wo war Miss UniMoers? Diese fiktive Gestalt, die das Festival mitgestalten soll, erwacht in der Halle nicht zum Leben. Es gilt also noch einiges zu entdecken in den nächsten Tagen.

Michael S. Zerban