O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Das Landesjugendorchester NRW verreist

Erhabenes in der Kathedrale

Nach intensiven Vorbereitungstagen heißt es für das Landesjugendorchester NRW nun, sich zu bewähren. Erster Auftrittsort ist die Kathedrale von Lille. Eine akustisch herausfordernde Spielstätte, von der niemand weiß, ob überhaupt Publikum kommen wird. Zumal das Programm wenig Französisches bietet. Die Spannung wächst allmählich. Da hilft auch die Einladung des Städtepartnerschaftsvereins Lille Köln zu einem Imbiss vor dem Konzert wenig.

Foto © O-Ton

In aller Herrgottsfrühe ist Michel Rychlinski, Geschäftsführer des Vereins zur Förderung der Landesjugendensembles NRW, von Amiens nach Lille aufgebrochen. Eigentlich hatte er sich die Reise anders vorgestellt. So mehr als Beobachter und offizieller Repräsentant wollte er sich aus dem organisatorischen Geschehen heraushalten. Um im übertragenen Sinn mit weißen Handschuhen zurückzukehren. Das hat er sich längst abgeschminkt. Rita Menke, die Orchestermanagerin, muss weiterhin krankheitsbedingt im Zimmer bleiben. Die Kommunikation mit den Gastgebern verläuft freundlich, aber etwas schleppend. Der Bühnenaufbau in der Kathedrale von Lille ist noch vollkommen unklar. Später wird Rychlinski sich darüber freuen, dass es so gekommen ist. Denn die Jugendlichen erleben ihn so nicht als den unnahbaren Chef, der allenfalls mal eine Sonntagsrede hält, sondern als Teil ihrer Gemeinschaft. Und schon bald verbringt er einen gut Teil seiner Zeit mit Gesprächen, die die Jugendlichen an ihn herantragen. Besser, wird er nach Reiseende befinden, hätte es gar nicht laufen können. Jetzt eilt er der Reisegruppe voraus, um den Bühnenaufbau sicherzustellen.

Hinter der Jugendherberge werden die beiden Reisebusse beladen, während die Bühnenbauer, Kurt Meißner und Tim Esser, mit ihrem vollbeladenen Lkw darauf warten, sich dem Tross anzuschließen. Wer sich als Laie vorstellt, dass die Kontrabässe mit zu den größeren logistischen Herausforderungen gehören, wird heute Morgen eines Besseren belehrt. Während Schlagwerke und Harfe im Lkw der Bühnenbauer untergebracht sind, werden die Kontrabässe kurzerhand in den Bussen verstaut. Für ihre Besitzer eindeutig eine alltägliche Beschäftigung. Die Busse haben das Stadtgebiet von Amiens noch nicht verlassen, als sich zeigt, dass die Orchestermitglieder am Vorabend eher nicht um 22 Uhr die Augen geschlossen haben. Es ist sehr still auf der etwa 140 Kilometer dauernden Reise nach Lille. Als Erwachsener ist man gewöhnt, dass die Fahrer von Reisebussen immer sehr genau wissen, wo sie hin müssen. In Lille lernt man, dass es auch anders geht. Missmutig lenkt der Fahrer seinen Bus auf einen öffentlichen Parkplatz im Zentrum von Lille, froh, überhaupt einen Standort gefunden zu haben. Und so müssen die Musiker ihre Instrumente rund 500 Meter durch die Innenstadt zur Kathedrale schleppen. Dabei hätte es vor der Kathedrale allen Raum gegeben. Die Jugendlichen nehmen es klaglos hin. Ihre Betreuer weisen ihnen ihre Aufenthaltsräume in der Kathedrale zu, immerhin nach Geschlechtern getrennt.

Foto © O-Ton

Bei der Anspielprobe zeigt sich, dass Sebastian Tewinkel, der Dirigent des Landesjugendorchesters NRW, mit seinen Befürchtungen richtig lag. Die Akustik ist, um es freundlich auszudrücken, verheerend. Immer wieder läuft er in die Mitte des Publikumsraums, um dem Klang des Orchesters zu lauschen und anschließend Korrekturen im Spiel vorzunehmen. Solch ein Engagement findet man nicht alle Tage. Erst nachdem die größten Schwierigkeiten behoben sind, tritt Entspannung ein. Ja, es bleibt sogar Zeit für eine Gruppenaufnahme, die Tim Esser mit seiner Drohne vor dem Eingangsplateau wunderbar einfängt.

Wenn in diesen Tagen nur wenig von den Städten berichtet wird, liegt das daran, dass trotz aller Bemühungen seitens der Organisation, den Jugendlichen möglichst viel Freistunden einzuräumen, um die Orte kennenzulernen, kaum Zeit bleibt, sich mit den Städten auseinanderzusetzen. Statt Museen, Oper, Theater oder andere Sehenswürdigkeiten zu bewundern, nutzen die Jugendlichen die Zeit, nach Möglichkeiten zu suchen, preiswertes Essen und Eiscafés zu finden. Für sie geht das in Ordnung. Schließlich ist auch das Aufnahmevermögen eines Jugendlichen begrenzt. Rund 300 Kilometer von Düsseldorf entfernt, ist Lille die Hauptstadt der Region Hauts-de-France und liegt nahe zur Grenze Belgiens. Die Altstadt, die die Jugendlichen immerhin erobern können, ist von steinernen Bürgerhäusern aus dem 17. Jahrhundert gekennzeichnet. Damit sind die flämischen Einflüsse bis heute unverkennbar. Da bieten sich prachtvolle Bilder, vor allem, wenn man über die belebte Grand Place schlendert. Die Hoffnung ist nicht unbegründet, dass die Jugendlichen den Aufenthalt auch ohne Stadtführung in bester Erinnerung behalten werden.

Es gehört sicher zu den berührendsten Begegnungen während der Konzertreise, als der Verein der Städtepartnerschaft Köln und Lille zu einem Imbiss vor dem Konzert in der Kathedrale von Lille einlädt. Für die Jugendlichen wird wohl am ehesten in Erinnerung bleiben, dass es frische Erdbeeren gibt. Für die Älteren ist einfach anrührend, mit wie viel Liebe die älteren Herrschaften des Vereins ein riesiges Büffet auffahren, ohne auch nur ein Wort des Dankes zu erwarten. Es genügt ihnen vollkommen, den jungen Deutschen eine Freude zu bereiten. Franzosen mit Liebe zu Deutschland – Europa lebt!

Foto © O-Ton

Die Erleichterung ist groß. Pünktlich zu Konzertbeginn sind die Stuhlreihen nahezu vollständig besetzt. Die Öffentlichkeitsarbeit vor Ort hat funktioniert. Und so nehmen auch die Musiker ihre Plätze ein. Lampenfieber ist zumindest nicht erkennbar. Das Programm, das das Landesjugendorchester NRW sich für seinen Aufenthalt in Frankreich und Belgien vorgenommen hat, ist so bekannt wie reizvoll. Auf dem Abendzettel sind die Peer-Gynt-Suiten Nr. 1 und 2 sowie Scheherazade von Nikolaj Rimski-Korsakow vermerkt.

1866 arbeitete Henrik Ibsen an seiner Dichtung Peer Gynt nach der Vorlage norwegischer Märchen von Peter Christen Asbjørnsen, als er den Komponisten Edvard Grieg in Rom kennenlernte. Rechte Freunde wollten sie nicht werden, aber als Ibsen nach dem Erfolg seiner Dichtung ein Theaterstück erarbeitete, beauftragte er Grieg mit der Musik. Das Bühnenstück wurde mit Griegs Schauspielmusik am 24. Februar 1876 uraufgeführt. In den Jahren 1888 und 1891 stellte Grieg zwei Orchestersuiten zusammen, die heute zu den bekanntesten Orchesterstücken der romantischen Musik zählen. Auch Menschen, denen die Welt der klassischen Musik fremd ist, kennen viele Stellen aus den Suiten. Die Morgenstimmung, der erste Satz der ersten Suite, wird immer wieder gern in Werbung, Film und Fernsehen verwendet. Auch der vierte Satz, In der Halle des Bergkönigs, fand als Filmmusik und in der Rock-Musik Verwendung.

Bei solchem Wiedererkennungswert braucht es keine größeren Anstrengungen, das Publikum für sich einzunehmen. Außerdem zahlen sich jetzt die Bemühungen Tewinkels bezüglich der Akustik aus. Effektvoll, fast schon majestätisch, breitet sich der Klang in der Kathedrale aus. Da wird Tewinkel fast schon übermütig, dirigiert „für die Galerie“. Ja, es wird ein prachtvoller Abend. Das Geigensolo von Raphael Gisbertz in Solveigs Lied mit der Unterstützung von Hannah Breiler an der Harfe wird ein Fest.

Märchenhaft geht es auch in Rimski-Korsakows sinfonischer Dichtung Scheherazade zu, die im selben Jahr wie die erste Peer-Gynt-Suite entstand. Das Orchester lässt die vier Sätze durch den Kirchenraum perlen. Das Publikum ist begeistert, keiner, der noch sitzenbleibt, um sich für einen wunderbaren Abend zu bedanken. Eine ungewöhnliche Zugabe hat das Orchester noch im Gepäck, eigentlich als Hommage an Rita Menke gedacht, die darauf aber noch etwas warten muss. Viel Zeit zum Feiern bleibt nicht, denn die Musiker müssen zurück nach Amiens. Was nichts an der Euphorie über den gelungenen Einstand ändert.

Michael S. Zerban

Mehr Eindrücke von der Reise gibt es hier in der Bildergalerie.