O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ausschnitt aus dem Buchdeckel des Originaltitels

Alexander Genis

Über den Tellerrand

Kulturarbeit ist immer auch Friedensarbeit“, hat – vermutlich nicht nur – Sigmund Graf Adelmann einmal formuliert. Das funktioniert aber nur, wenn die Kulturarbeit über nationale Grenzen hinausschaut. Oder andere Perspektiven auf sich selbst zulässt. Mit Alexander Genis‘ Arbeiten gelingt das ausgezeichnet.

Man kann die Heimat lieben, muss aber über den Tellerrand schauen und wissen, dass es noch etwas anderes gibt“, hat Adelmann auch gesagt, als seinem Verein die Europa-Medaille verliehen wurde. So ähnlich muss wohl auch Alexander Genis gedacht haben, als er 1977 im Alter von 24 Jahren in die USA emigrierte. Geboren wurde er im Februar 1953 im russischen Rjasan, aufgewachsen ist er in Riga, der heutigen Hauptstadt Lettlands, wo er auch sein Studium begann, das er in der Sowjetunion beendete. In New York City arbeitete er mit Joseph Brodsky, Sergei Dovlatov und Vagrich Bakhchanyan zusammen. Seit 1984 war er Hauptnachrichtenmoderator der wöchentlichen Radiosendung American Hour with Alexander Genis in russischer Sprache bei Radio Liberty. Daneben schrieb er als Kolumnist für die liberale russische Zeitschrift Novaya Gazeta und war Gastgeber der Fernsehshow Letters from America, die im russischen Fernsehkanal Culture ausgestrahlt wurde.

In Russland zählen mehr als ein Dutzend Sachbücher, die er verfasst hat, zu den bestverkauften Büchern. Darunter finden sich zahlreiche Reise-Essays. „In jedem Erdteil suche ich das, was mir fehlt. Im Osten den Gott oder das, wodurch er dort ersetzt wird. In Japan die Schönheit, in China die Weisheit, in Indien Elefanten, in Israel so ziemlich alles. Europa war und bleibt für mich unverändert ein geopolitischer Traum, und ich komme dorthin, um mich zu überzeugen, dass es nicht nur im Traum, sondern auch in Wirklichkeit existiert“, sagt Genis, der im Februar dieses Jahres 70 Jahre geworden ist, über seine Arbeit. Seine Texte sind weniger Reisebeschreibungen als die gedankliche Essenz aus seinen Erlebnissen in fremden Ländern. Dass er dabei immer wieder auf sein eigenes Leben und seine Geschichte rekurriert, sorgt nicht nur für – leisen – Humor, sondern auch für überraschende Einsichten und selbst bei älteren Texten für interessante Perspektiven. Der entscheidende Nachteil seiner Essays war bislang: Es gab sie nicht auf Deutsch.

Ekaterina Belowa war vierzehn Jahre alt, als sie aus ihrer Heimatstadt St. Petersburg mit vierzehn Koffern, einem Schäferhund und ihren Eltern nach Berlin zog. Nach dem Abitur stand ein Wirtschaftsstudium an. Bei einem Auslandssemester im spanischen Sevilla wurde ihr klar, dass sie etwas mit Sprachen machen wollte. Und so wurde sie Übersetzerin. Nach zehn Jahren in einem Wirtschaftsunternehmen, in dem sie sich zwischen deutschem Ingenieurswesen und russischen Unternehmern bewegte, entließ sie sich in die Selbstständigkeit, um sich künftig mit Übersetzungen im medizinischen Bereich zu befassen. Ein wunderbares Geschäftsmodell, bis sich die politische Situation vor einem Jahr änderte. Die sorgte dafür, dass ihre Übersetzungen zurzeit nicht mehr gefragt sind, weil Russen in Deutschland – zu Unrecht – nicht mehr erwünscht sind.

Es entspricht Belowas lebensbejahender Art, dass sie die Gelegenheit nutzte, sich mit literarischen Übersetzungen zu befassen. Und da stand Alexander Genis ganz oben auf ihrer Liste. Kurzerhand schrieb sie ihn an, ob er damit einverstanden sei, seine Texte endlich auch auf Deutsch zu lesen. Genis stimmte mit Freuden zu. Also stürzte Belowa sich auf ausgewählte Essays des Schriftstellers, um sie für das Kulturmagazin O-Ton zu übersetzen. „Bücher von Genis strahlen eine magische Kraft aus und öffnen hunderte Türen. Wenn Sie bereit sind, den Autor zu entdecken, sollten Sie den Koffer am besten schon gepackt und griffbereit haben“, beschreibt Belowa ihre Begeisterung für diese Arbeit.

Welch ein Gegensatz! Auf der einen Seite ein vergreister Mann, wie gerade auf den Bildern zu sehen ist, die im Fernsehen um die Welt gehen, der alles daransetzt, die Welt ins Verderben zu stürzen, auf der anderen Seite ein Kosmopolit, der Brücken zwischen den Kulturen schlagen will. O-Ton hat sich dafür entschieden, die von Belowa getroffene Auswahl von Genis‘ Texten als Audiobeiträge zu veröffentlichen, um einen Kulturbeitrag zum Frieden zu leisten. Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle an Alexander Genis für sein Vertrauen und an Ekaterina Belowa, die mit unermüdlichem Fleiß und Engagement an der Umsetzung des Projekts mitgewirkt hat. Verlage, die an weiteren Übersetzungen Belowas interessiert sind, werden gebeten, sich direkt mit O-Ton in Verbindung zu setzen.

Michael S. Zerban