O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Susanne Diesner

Der Kaiser von Atlantis

Dem Tod so nah

DER ZAR LÄSST SICH PHOTOGRAPHIEREN/DER KAISER VON ATLANTIS
(Kurt Weill, Viktor Ullmann)

Besuch am
20. April 2024
(Premiere am 18. April 2024)

 

Partika-Saal, Viktor-Ullmann-Festival der Robert-Schumann-Hochschule, Düsseldorf

Man konnte im Laufe der Jahre schon eine Menge von Aufführungen der Opernklasse an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf erleben, die sicher spektakulärer, origineller, spritziger und lustiger waren, aber in der Erinnerung noch nie eine mit diesem Tiefgang, wie sie in diesem Jahr angeboten wird. Und dabei fängt es erst mal halbwegs lustig an. 1928 wurde der Einakter Der Zar lässt sich photographieren von Kurt Weill uraufgeführt. Weill selbst verstand sein Werk als Opera buffa, stellte also die komödiantische Absicht in den Vordergrund. Der Zar kündigt an, sich im Atelier Angèle fotografieren lassen zu wollen, um den Wünschen der Fotografin zu entsprechen. Die kann sich an ein solches Ansinnen nicht erinnern, will sich aber die Chance nicht entgehen lassen, den Zaren abzulichten. Kurz vor seiner Ankunft entern Revolutionäre das Fotostudio, um den Zaren zu erschießen. „So wird aus einem Politkrimi mit Attentatsvorbereitungen schließlich die Parodie auf die schrägen politischen Verhältnisse in irgendeinem Reich irgendeines Zaren“, schrieb Horst Dichanz 2016 in Opernnetz anlässlich seines Besuchs des Kurt-Weill-Festes in Dessau. Von 1933 bis 1945 durfte die Oper in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden.

Elisabeth Pedross baut in diesem Jahr eine Guckkastenbühne in den Partika-Saal, die über viele Abgänge verfügt. Sie ist ganz in weiß gehalten, ein Kreuz zweier roter Streifen durchzieht sie, ein rotes Podest markiert die Mitte. Links und rechts sind zahlreiche Fächer für großformatige Fotografien eingebaut. Ein Sessel, eine Lampe und eine altmodische Kamera reichen als Requisiten für den ersten Teil des Abends. Maria Lucía Otálora steckt die Protagonisten in Kostüme, die in etwa dem Zeitgeist entsprechen. Regisseurin Belca Sević löst die Personenführung auf kleinem Raum adäquat, ist auch immer wieder für einen kleinen Spaß zu haben. Zurückhaltend, aber ebenfalls mit kleinen, hübschen Effekten gestalten Volker Weinhart und Max Fehn das Licht.

Weill hatte in Der Zar lässt sich photographieren noch nicht die musikalische Reife erreicht, die spätere Werke wie Mahagonny, die Dreigroschenoper oder Street Scenes auszeichnen, auch wenn der Tango Angèle später im Radio rauf und runter gespielt wurde. Das stellt die Sänger vor einige Herausforderungen, die sie meisterlich lösen. Neben den zahlreichen kleinen Rollen treten hier die „üblichen Verdächtigen“ in den Vordergrund. George Clark erträgt als Zar seine pomadisierte Frisur und glänzt mit Nonchalance. Als Angèle gibt sich Pauline Gropp ganz als Dame von Welt. Und Julia Wirth gefällt in Spielfreude und Gesang als falsche Angèle. Der Projektchor Kora Weill unterstützt das Geschehen vortrefflich. Und das rund 45-köpfige Orchester unter der Leitung von Thomas Gabrisch holt das Bestmögliche aus der Partitur heraus. Aber, sind wir ehrlich, es hat seinen Grund, warum das Werk bis heute nicht zu den Kassenschlagern gehört.

So, und jetzt stell dir mal vor, du seiest Komponist, lebst in Prag, wirst dort von den Nationalsozialisten festgenommen und nach Theresienstadt verbracht. Ein „Konzentrationslager für ältere Juden“ im „Protektorat Böhmen und Mähren“ im heutigen Tschechien, dessen festungsartige Anlage als Vorzeige-Lager und Durchgangsstation in den Tod dient. Wir schreiben das Jahr 1942. Von der Geschichte mit dem Tod weißt du nichts. Sie erzählen dir was von „Ost-Transporten“, die von den Insassen möglicherweise sogar als Erleichterung wahrgenommen werden, weil die räumliche Enge nachlässt. Dir ist schnell klar, dass du nicht in der Sommerfrische bist. Für 7.000 Insassen vorgesehen, sind hier mehr als 40.000 Menschen untergebracht. Aber du wirst vom Arbeitsdienst befreit und mit der Aufgabe betraut, dich um die Musik im Lager zu kümmern. Du bekommst Freiheiten, darfst komponieren, Aufführungen organisieren, bist dort so etwas wie der Generalmusikdirektor. Sagen wir so: Es hätte dich schlimmer treffen können. Wenn du ganz viel Glück hast, ist der verdammte Krieg bald vorüber, und du kommst wieder zurück in die Heimatstadt. Vielleicht kann man sich so ungefähr die Situation von Viktor Ullmann vorstellen, der in Theresienstadt eine produktive Phase erlebte. Die nächste Opernproduktion war in Planung. Der Kaiser von Atlantis sollte sie heißen. Dazu kam es nicht mehr.

Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung erzählt von Kaiser Overall, der den totalen Krieg ausruft. Der Tod verweigert ihm die Gefolgschaft und lässt die Menschen nicht mehr sterben. Schnell merkt der Kaiser, dass es so nicht funktioniert und bittet den Tod, wieder seiner Arbeit nachzukommen. Der ist bereit dazu, wenn der Kaiser ihm als erster folgt. Der Tod als Erlöser der Menschheit. Fertiggestellt hat Ullmann die Partitur im Sommer 1944, also wenige Monate, ehe er in Auschwitz umgebracht wurde. Lauscht man den Texten und vergegenwärtigt sich die zeitlichen Zusammenhänge, kann einem schon mulmig werden. Endlich tief unter die Haut geht die Musik, wenn Ullmann verschiedene Zitate wie das Deutschlandlied oder den Choral Eine feste Burg verwendet.

Die Inszenierung im Partika-Saal sorgt immer wieder dafür, dass man mindestens eine Faust in der Tasche machen muss, um Wut und Traurigkeit zu unterdrücken. Hier bekommen die Kostüme von Otálora noch einmal eine ganz andere Qualität. Gewiss, der Kaiser in der nachempfundenen Wehrmachtsuniform ist typ- und wunschgerecht, die Trommler, der Harlekin, der Lautsprecher, Bubikopf und Soldat sind in surreale, aber stilisierende Kostüme gekleidet, übertroffen hat sich die Kostümbildnerin aber beim Tod, eine schwarzgewordene Fantasie mit blutroter Kopfbedeckung.

Die emotionale Tiefe erreichen die Akteure in der Regie von Savić und ihren stimmlichen Möglichkeiten leicht. Der wuchtigen Erscheinung von Bariton Byung Jun Ko scheint der Kaiser auf den Leib geschneidert. Thomas Büscher kann dem Lautsprecher die nötige Tonlosigkeit verleihen, die seine Kommentare erst richtig zur Wirkung kommen lässt. Valentin Ruckebier ist stimmlich wie darstellerisch ein herausragender Tod. Bravouröse Leistung. Dem Harlekin gibt Florian Wugk das tänzerisch-verspielte Wesen, das hart an der Grenze nicht ins Tuntige abgleitet. Pauline Gropp ist an diesem Abend gleich zwei Mal besetzt und zeigt neben dem Soldaten Frederic Schikora einen bezaubernden Bubikopf. Kim Holtappels und Luzia Ostermann bestechen schließlich vor allem in ihrer stakkatohaften Bewegungssprache, die mindestens so gekonnt wie ihre kurzen stimmlichen Einlagen beeindruckt.

Es wäre den Studenten wirklich zu wünschen, dass sie mit dieser großartigen Produktion auf die (Studio-)Bühnen im ganzen Land eingeladen werden, auch wenn man die wunderbare Musik, die heute Abend aus dem Orchester erklingt, dann vermutlich von der Festplatte zuspielen müsste. Aber die Studenten liefern hier eine so eindrucksvolle Leistung ab, dass man ein solches Manko leicht verschmerzen könnte.

Dass man nach dem Kaiser von Atlantis wie aus anderen Opernaufführungen leicht und beschwingt nach Hause fährt, darf man allerdings nicht erwarten. Vielmehr verweilen die Gedanken noch eine ganze Weile bei der Perversion des Systems, dem Ullmann zum Opfer gefallen ist, und man möchte nach der Aufführung eigentlich mit niemandem mehr reden. Nach zweieinhalb Stunden geht ein absoluter Höhepunkt des Viktor-Ullmann-Festivals zu Ende. Und man darf allen Beteiligten dazu nur aus tiefstem Herzen gratulieren.

Michael S. Zerban