O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Düsseldorf-Festival 2022

Bis zur Atemnot

BACKBONE
(Gravity & Other Myths)

Besuch am
18. September 2022
(Premiere am 16. September 2022)

 

Düsseldorf-Festival, Theaterzelt am Schlossturm, Düsseldorf

An diesem Abend passiert vieles, was eigentlich nicht sein kann. Das kündigt sich schon am Nachmittag an. Temperaturen unter 15 Grad und Regen im September gehören nicht zu den Wetterbedingungen, die ein größeres Publikum am Abend in ein Theaterzelt treiben. Trotzdem bleibt kaum ein Platz unbesetzt. Einmal mehr wird hier die These widerlegt, dass die Menschen die Theater aus Angst vor Corona meiden. Rund 900 Menschen kommen hier auf engstem Raum zusammen, die wenigsten tragen Masken. Die Stimmung ist gut, während der Regen unüberhörbar auf das Dach des Zeltes prasselt und Andreas Dahmen, einer der beiden künstlerischen Leiter, seine Sponsoren-Dankesrede hält.

2009 wurde im australischen Adelaide die Compagnie Gravity & Other Myths gegründet. Keine ungewöhnliche Sache. Seit 2000 wurden unzählige Artistik-Gruppen in Australien gegründet. Weitaus ungewöhnlicher war dann schon, dass das erste Stück des Ensembles A Simple Space mehr als 950-mal in 34 Ländern aufgeführt wurde. 2017 gab es beim Adelaide Festival die Uraufführung von Backbone, dem Stück, das jetzt seinen Weg zum Düsseldorf-Festival in das Theaterzelt am Schlossturm gefunden hat. Backbone, das heißt im Deutschen Wirbelsäule und verweist auf das Grundgerüst körperlicher Stärke, aber es heißt auch Rückgrat, und das bedeutet vor allem, psychische Kraft zu zeigen. Damit ist der Rahmen des heutigen Abends vorgegeben, auch wenn das Publikum noch nicht den Ansatz einer Ahnung hat, was es erwartet.

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Auf der Bühne liegen Menschen und Materialien in einer unbestimmten Ordnung. Mit aufgehendem Licht beginnen die Menschen, eine neue Ordnung zu schaffen. Stangen werden im Hintergrund aufgestellt, davor bekommen Metalleimer einen neuen Platz. Am rechten Bühnenrand sind Kleiderständer aufgebaut. Links haben zwei Musiker Platz genommen. Als die Bühne geräumt ist, können die Akrobaten sich kurz aufwärmen, indem sie beispielsweise auf die Oberschenkel ihrer Kollegen springen, um dort stehen zu bleiben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist jedem Zuschauer klar, dass hier Dinge gezeigt werden, von denen einem der Hausarzt bei den eigenen Bewegungsabläufen dringend abrät.

Regisseur Darcy Grant lässt nun nicht Kunststückchen für Kunststückchen nacheinander ablaufen, sondern baut ein vielschichtiges Szenario auf, das von Musik und Körperlichkeit getrieben ist. Während auf der Bühne drei Männer herumlaufen, die auf ihren Schultern zwei oder in Spitzenzeiten drei weitere Menschen herumtragen, zeigt ein vierter HipHop-Sprünge. Alsbald ist nicht mehr die Pyramide so wichtig, sondern eher der Umstand, wie die Akrobaten sie wieder auflösen. Da ist ein Todessturz, also der Sprung kopfüber ins Leere und in das Vertrauen darauf, vom Kollegen rechtzeitig abgefangen zu werden, schnell Routine, während die Zuschauer die Luft anhalten, bis sie die eigene Atemnot bemerken und zwischendurch nur noch unmotiviert klatschen. Zwischendurch wird aus den Eimern Granulat auf dem Boden ausgeschüttet. Es gibt wenig Mittel mehr, die eigene Standfestigkeit zu erschüttern. Geoff Cobham, der auch die Bühne eingerichtet hat, kleidet die aberwitzigen Situationen in ein eindrucksvolles Lichtdesign. Dabei trägt er seins dazu bei, das ganz große Tableau oder auch die intime Situation ebenso zu zeigen wie das dramatische Schwarz. Elliot Zoerner und Shenton Gregory haben dazu eine eindringliche Musik komponiert, die von Nicholas Martyn am Schlagzeug und Sonja Schebeck an Geige und Synthesizer live mit besonderer Eindringlichkeit gespielt wird.

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Viele der Besucher sind vermutlich schon froh, wenn sie ins Auto einsteigen können, ohne Rückenschmerzen zu bekommen. Trotzdem wird ihnen der absolute Höhepunkt in der Fülle der Attraktionen möglicherweise gar nicht so bewusst. Es ist der Zeitpunkt, an dem jeder halbwegs vernünftige Arzt „Abbrechen! Sofort abbrechen!“ riefe. Da wird die Akrobatin auf Stangen in die Höhe gehoben. Als sie schließlich mit einer Stangenspitze in der Wirbelsäule vertikal in mehreren Metern Höhe zu liegen kommt, weiß auch der letzte Zuschauer, dass das nicht möglich ist. Das anzuschauen macht auch keinen Spaß mehr. Und es siegt die Erleichterung, als sie wider jedes Erwarten wieder heil auf dem Boden ist. Aber was heißt schon Spaß? Den haben offenbar die Akrobaten, wenn sie einander gegenseitig auf die Schultern steigen, unvergesslich wird die Freude der Akrobatinnen bleiben, die sich lächelnd durch die Luft schleudern lassen, oft genug gerade mal von zwei Händen gehalten. Der Schwerkraft und anderen Mythen wird an diesem Abend eindeutig der Garaus gemacht.

Nach 80 Minuten glaubt keiner mehr ernsthaft, dass diese Akrobaten irgendeine Grenze kennen. Da ist umso erfreulicher, dass sie am Ende Steine mit ausgestreckten Armen halten müssen – endlich zittern die Arme, wird der Atem schneller, fallen die Steine. Sind es also doch nur Menschen, die gerade gezeigt haben, was alles nicht möglich ist? So richtig mag das Publikum nicht mehr daran glauben. Die Zuschauer springen auf, nicht, um nach Luft zu ringen, also die meisten nicht, sondern um den Künstlern ganz großen Applaus zu zollen. Wird es Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen, den beiden Künstlerischen Leitern, in den nächsten Tagen noch gelingen, dieses Fest zur Aufhebung der Schwerkraft noch zu steigern? Es spricht nichts, aber auch gar nichts dafür.

Michael S. Zerban