O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ruhrtriennale 2021

Flucht aus der Heide

BÄHLAMMS FEST
(Olga Neuwirth)

Besuch am
16. August 2021
(Premiere am 15. August 2021)

 

Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle, Bochum

Zeitgenössische Opern stehen in einem schlechten Ruf. Große, abendfüllende Werke werden immer seltener, häufig kann das repertoiregewohnte Publikum wenig mit der Musik anfangen, „richtigen“ Operngesang hört man nur noch selten. Deshalb die Flinte ins Korn zu werfen, ist aber sicher der falsche Weg. Gerade Menschen, die nicht dem klassischen Opern-Kanon von Monteverdi bis Wagner verhaftet sind, finden hier oft ungewöhnliche Zugänge zum Musiktheater als Gesamtkunstwerk.

Eine solche Möglichkeit bietet jetzt die Ruhrtriennale, die am Eröffnungswochenende Bählamms Fest auf ihr Programm geschrieben hat. Auf der Grundlage von The Bea-Lamb’s Holiday von Leonora Carrington haben Komponistin Olga Neuwirth und Librettistin Elfriede Jelinek 1993 ein Musiktheater in dreizehn Bildern geschaffen. Eine ziemlich abgefahrene Geschichte. Theodora hat den erheblich älteren Philip geheiratet und ist in sein Elternhaus in der Heide gezogen. Dort führt seine Mutter, Margret Carnis, vom Rollstuhl aus das Regiment, während Philip sich dem Suff ergibt. Seinen Bruder hat Ms Carnis mit einem Wolf gezeugt. Das Zwitterwesen hängt an der bösen alten Frau, die nicht nur das Hauspersonal tyrannisiert. Dass Theodora überhaupt in diesen Dunstkreis gerät, liegt daran, dass Philips erste Frau, Elizabeth, verschollen scheint. In ihrer Not zieht Theodora sich mehr und mehr in das Kinderzimmer des Hauses zurück, in dem sie ein Liebesverhältnis mit dem Wolfsmenschen Jeremy pflegt. Ihre Hoffnung ist, von Jeremy aus dieser Hölle befreit zu werden. Während der Schäfer von täglich gerissenen Schafen berichtet, taucht Elizabeth wieder auf, die sich mit Philip verbündet, um die Jagd auf denjenigen zu beginnen, der die Schafe tötet. Während die Schafe das Fest der Lämmer feiern, tötet Jeremy das hübscheste der Schafe, Mary. Schließlich wird er von Philip und Elizabeth „erlegt“. Als Toter erscheint er noch einmal Theodora, die ihn erneut anfleht, sie mitzunehmen, egal wohin. Jeremy verweigert sich, erlegt ihr aber auf, immer jung, schön und bleich zu bleiben, damit er sie über den Tod hinaus lieben kann. Während sich das Haus in der Heide mit den alten Protagonisten wieder hermetisch schließt, bleibt Theodora außen vor und beschließt zu altern. Man erspare sich dazu unbedingt das im Abendzettel abgedruckte Interview, in dem die Dramaturgin versucht, dem Werk ihr ideologisch verquastes Weltbild aufzudrücken, indem sie etwa die Behauptung aufstellt: „Wenn man nicht wüsste, dass der Stoff von 1940 stammt, könnte einen der transformative Charakter dieses Musiktheaters zur Vermutung verleiten, es sei brandneu, entstanden im Rahmen des aktuellen Diskurses über Genderfluidität und non-binäre Identität“. Warum man das Publikum mit solch hanebüchenem Blödsinn abschrecken muss, erschließt sich nicht, und glücklicherweise lassen sich die Regisseure Bush Moukarzel und Ben Kidd auch nicht in diese Ecke drängen.

Sie erzählen lieber die Geschichte farbenfroh und voller fantastischer Einfälle. Darin werden sie kongenial von Nina Wetzel unterstützt, die für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Schön, wenn man aus dem Vollen schöpfen kann. In der Bochumer Jahrhunderthalle ist die Bühne ebenerdig vor einer steil aufsteigenden Tribüne aufgebaut. Im Zentrum das Haus, das sich zur Vorderseite hin öffnen lässt. Auf der Rückseite ist Platz für Videoprojektionen von Jack Phelan. Die Drehscheibe, auf der das Haus steht, ist umgeben von echter Heidelandschaft. Im Vordergrund gibt es einen Teich, der als zusätzliche Projektionsfläche dient. Auch die Traversen oberhalb der Bühne werden in die Handlung einbezogen. Links von der Bühne ist Platz für das Orchester, das allerdings von Publikum und Bühne abgewandt sitzt. Hier agieren die Darsteller in rollengerechten, aber teils völlig überdrehten Kostümen, die endlich einmal wieder den Zauber des Theaters zeigen. Ins rechte Licht gesetzt werden sie dabei zu jeder Zeit von Patrick Fuchs, der mit wenig Überraschungen, aber viel Stringenz daherkommt. So durchdacht die Personenführung des Regie-Duos ist, so zurückgenommen ist die Choreografie von Anne-Lise Brevers.

Die Darsteller sehen sich mit einer völlig neuen Rolle konfrontiert. Denn Neuwirth ist nicht am Schöngesang interessiert, sondern sieht die Stimme als zu formende Skulptur. Eine interessante Erfahrung nicht nur für die Akteure, die hier für sich sicher Grenzen überschreiten und elektronische Interventionen in Kauf nehmen. Das Publikum sieht sich einer neuen Hörerfahrung ausgesetzt, die im Laufe des Abends allmählich ihren Reiz entfaltet, stets geleitet vom „Wolfsmotiv“ und sich stetig vermengend mit Musik und elektronischen Einspielungen. Es gibt an diesem Abend niemanden, der sich vom personalintensiven Ensemble abhebt. Auf höchstem Niveau arbeiten die Darsteller präzise und engagiert. So sollen hier stellvertretend Katrien Baerts als Theodora, Hilary Summers als Margret und Gloria Rehm als Elizabeth erwähnt werden. Auf der männlichen Seite gibt Dietrich Henschel Philip, Andrew Watts Jeremy und Graham F. Valentine Henry. Hinzukommen nicht nur zahlreiche Darsteller, sondern bis auf Baerts und Summers sind auch alle in Mehrfachrollen besetzt. Auch Statisten und Tänzer gefallen in ihren Auftritten. Besonders erwähnenswert sind auf jeden Fall die Solisten des Knabenchores der Chorakademie Dortmund, die sich ohne Abstriche in die Arbeit des Ensembles einfügen.

Neuwirth lässt das Orchester abseits jeder Romantik erklingen. Nicht die Streicherklänge stehen im Vordergrund, sondern Bläser und eher ungewöhnliche Instrumente wie elektrische Gitarren, Schlagwerk und Theremin entwickeln die Stimmungsbilder, die der Handlung Emotionalität und Dichte verleihen. Im Bochum sitzt das Ensemble Modern am Spielfeldrand und lässt sich von Sylvain Cambreling zu Höchstleistungen antreiben. Eine Glanzleistung vollbringt Lydia Kavina am Theremin, das hier höchst ungewöhnlich als gleichwertiges Instrument eingesetzt wird und in Vollendung erklingt. Um das klangliche Gleichgewicht zwischen Bühne, Einspielungen und Orchester herzustellen, sind allerdings gleich drei Menschen beteiligt: Jose Miguel Fernandez, Markus Noisternig und Manuel Poletti.

Das Publikum im vollbesetzten Saal bedankt sich mit langanhaltendem Applaus. Wer die Begegnung mit dem klassischen Repertoire der Oper scheut, hat noch an vier weiteren Terminen Gelegenheit, sich auf diese „neue“ Begegnung mit dem Musiktheater einzulassen. Ein großartiges Orchester, wunderbare Darsteller und ungewöhnliche Klangerlebnisse in einer fantastischen Geschichte bieten dazu eine hervorragende Gelegenheit.

Michael S. Zerban