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Kunststücke
Avantgarde: Bis heute ist das Wort mit Menschen verbunden, die ihrer Zeit voraus sind, die die Zukunft beeinflussen. Was das für die Kunstgeschichte bedeutet, kann man derzeit im Osthaus-Museum in Hagen erfahren. Hier zeigen Tayfun Belgin und Joseph Kiblitsky gleich zwei Ausstellungen, die einen Blick auf die Entstehung und Entwicklungen der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlauben.
Als Karl Ernst Osthaus 1902 das Folkwang-Museum in Hagen eröffnete, galt es als das erste Museum für zeitgenössische Kunst weltweit. Nach dem Abbruch einer Lehre und seines Studiums der Philosophie und Kunstgeschichte versetzte ihn das großelterliche Erbe mütterlicherseits dazu in die Lage. Ursprünglich als Ausstellungsort seiner naturkundlichen Sammlung gedacht, verlagerte sich der Schwerpunkt des Museums noch vor seiner Eröffnung hin zur zeitgenössischen Kunst. Osthaus verfolgte die Idee, das „Leben positiv durch die Förderung von Kunst und Kultur zu beeinflussen“. Emil Nolde nannte das Museum ein „Himmelszeichen im westlichen Deutschland“. Bereits mit 46 Jahren starb Osthaus, ein Jahr später verkauften seine Erben den größten Teil der Kunstsammlungen an die Stadt Essen, die das heutige Folkwang-Museum am Museumsplatz errichtete.
Gut 120 Jahre später kuratieren Museumsdirektor Tayfun Belgin und Kurator Joseph Kiblitsky zwei Ausstellungen im heutigen Osthaus-Museum, die an den Gründergedanken anknüpfen sollen. Seit Ende September sind auf einer Etage des modernen Teils des Museums, der als white cube gestaltet ist, mehr als 80 Werke in Europäische Avantgarde – Vision und Realität zu sehen – 60 Gemälde, fünf Skulpturen und ein „Konvolut von Arbeiten auf Papier“. Die Werke von 38 Künstlern aus ganz Europa haben Belgin und Kiblitsky aus privaten Sammlungen und eigenen Beständen zusammengetragen, darunter auch bekannte Namen wie Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Auguste Renoir, Max Liebermann oder Oskar Kokoschka. „Nächstes Jahr wäre der Privat-Sammler Osthaus hundertfünfzig Jahre alt geworden. Diese Ausstellung ist eine Hommage an unseren Museumsgründer. Ihm zuliebe haben wir diese große Ausstellung mit viel Aufwand realisiert“, erzählt Belgin. Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind nicht nur die Zeit der großen technischen Umbrüche, sondern auch durch den Wandel von Geisteshaltungen in der Kunst gekennzeichnet, wie sie Henri de Saint Simon bereits 1824 schriftlich vorwegnahm. „Wir Künstler sind es, die euch als Vorhut dienen werden; die Macht der Künste ist in der Tat die unmittelbarste und schnellste. Wir besitzen Waffen aller Art: Wenn wir neue Ideen unter den Menschen verbreiten wollen, schreiben wir sie in Marmor oder auf eine Leinwand; wir machen sie durch Poesie und Gesang populär; wir bedienen uns abwechselnd der Leier und der Flöte, der Ode und des Liedes, der Erzählung und des Romans; die dramatische Bühne ist vor uns ausgebreitet, und dort üben wir einen galvanisierenden und triumphierenden Einfluss aus. Wir wenden uns an die Phantasie der Menschen und an ihre Gefühle“, ist in seinem Traktat zum Selbstverständnis der zeitgenössischen Künste zu lesen. Wenn die Ausstellung ein wenig wie ein Sammelsurium wirkt, entspricht das durchaus dem Zeitgeist jener Jahre. Schließlich werden sich aus den Visionen und Ideen jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erst später bis in die 80-er Jahre die unterschiedlichen Stilrichtungen entwickeln und manifestieren, wie wir sie heute kennen. Damit eignet sich die Ausstellung aber auch sehr gut für Besucher ohne kunstgeschichtliche Vorkenntnisse.
Blick in die Ukraine
Etwas spezieller wird es bei der zweiten Ausstellung David und Vladimir Burliuk – Meister der Experimente. Die Bilderschau der beiden Brüder mit mehr als 40 Werken aus den Jahren 1909 bis 1949 ist die erste Übersichtsschau der ukrainischen Künstler in Deutschland. In ihrer Heimat gelten sie als kunstgeschichtlich höchst bedeutend. David und Vladimir stammen aus Charkiw, gehören zu den Avantgarde-Künstlern und zeigten sich an Neuerungen nicht nur interessiert, sondern setzten die auch um. Wladimir, der bereits im Alter von 32 Jahren im Krieg starb, ist bekannt als Neo-Primitivist und Kubofuturist, während David, der 1922 in die USA ging, dort sehr viel Einfluss auf die Kunstszene nahm und 1967 auf Long Island starb, als Vater des russischen Futurismus gilt.
Um den Besuch der Ausstellungen als Erlebnis und nicht als optische Reizüberflutung der konventionellen Hängung in Erinnerung zu behalten, sei empfohlen, vor dem Besuch der Ausstellungen den Katalog zu erwerben und die interessanten Beiträge von Tayfun Belgin und Evgenia Boykova-Petrova zu lesen. Die Künstlerbiografien, die ebenfalls im Katalog aufgeführt sind, kann man dann gemütlich während des Rundgangs genießen. Außerdem kann es nicht schaden, bereits zu Hause einmal die Biografien von David und Vladimir Burliuk nachzuschlagen. Wer einen weiteren Anfahrtsweg in Kauf nimmt, sollte auch einen anschließenden Besuch des Hohenhofs einplanen, wo heute das Grabmal von Karl Ernst Osthaus steht.
Michael S. Zerban