O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christian Palm

Ruhrtriennale 2022

Faszinierende Vielfalt

ORGANICUM/SCHWERKRAFT UND GNADE/YUEN SHAN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
14., 26. und 28. August 2022
(Einmalige Aufführungen)

 

Ruhrtriennale, Salzlager Zeche Zollverein Essen, Maschinenhalle Zweckel Gladbeck

In diesem Jahr scheinen vor allem Konzert- und Tanzveranstaltungen der Ruhrtriennale nach der Eröffnung mit dem zähen und verkopften Musiktheater-Projekt Ich geh unter lauter Schatten starke Impulse geben zu können. Wobei zumindest drei überwiegend mit regionalen Kräften besetzte Konzerte internationales Niveau erzielen und die Bedeutung des Ruhrgebiets und des Rheinlands als Kultur- und Musiklandschaft bekräftigten. Auch und gerade im Umgang mit Musik der Moderne.

Das Programm Organicum im Salzlager der Essener Zeche Zollverein bestreitet zwar das Klangforum Wien. Die Leitung hat aber mit Patrick Hahn der junge neue Generalmusikdirektor der Stadt Wuppertal in Händen. Das Wiener Spezialensemble für Neue Musik, das auch maßgeblich am spektakulären Musiktheater-Projekt Ich geh unter lauter Schatten beteiligt war, stellt fünf Kompositionen für unterschiedlich besetzte Ensembles vor, die, mehr oder weniger nachdrücklich, eine Verbindung von „Musik und Naturwissenschaften“ anstreben.

Eine derartige Verknüpfung kann ein Hörer nachvollziehen, wenn Naturerscheinungen zum Klingen gebracht werden, weniger, wenn die Kompositionen mathematischen Systemen unterworfen werden, die allenfalls analytisch entschlüsselt werden können. Letztlich sind es doch Parameter wie Klang, Form und vor allem emotionaler Ausdruck, die vom Hörer unmittelbar wahrgenommen werden können. Das zeigen auch die fünf Kompositionen des Abends, obwohl die Entstehungszeiten teilweise 50 Jahre auseinanderklaffen. Iannis Xenakis, einer der prominentesten Altmeister der Avantgarde, arbeitete zwar mit ausgeklügelten Kompositionssytemen, vernachlässigte aber nie die emotionalen Fassetten. Was sich in Thallein aus dem Jahre 1984 wie in vielen seiner Werke in einer druckvollen, fast aggressiven Klanglichkeit niederschlägt. Ähnlich wie es bereits zehn Jahre zuvor die weniger bekannte Amerikanerin Lucia Dlugoszewski in Fire Fragile Flight für Ensemble mit teilweise eigens konstruierten Instrumenten praktizierte.

Auch wenn Michael Pelzel sein jetzt in Essen uraufgeführtes Stück Pavlopetri dem Guru Xenakis widmet, geht er wesentlich sanfter mit dem eher auf Vermischung als auf stahlharte Kontraste ausgerichteten Klang um. Das betrifft nicht weniger Sarah Nemtsovs Werk Moos aus dem Jahr 2019, in dem die Komponistin den Klang wie einen bemoosten Bodendecker mit raffinierten elektronischen Verfremdungen aussät. Fünfter im Bunde ist der Ungar Márton Illés, der in Forajzok Vokal- und Instrumentalklänge zu subtilen Klangflächen verdichtet. Hahn steuert die versierten Wiener Musiker sicher durch die komplizierten Partituren. Alle fünf Werke stoßen beim Publikum auf große bis sehr große Zustimmung.

Mit einem überragenden Konzert in der voll besetzten Gladbecker Maschinenhalle Zweckel sorgen Florian Helgath und das Chorwerk Ruhr auch in diesem Jahr an gleich drei Abenden für einen musikalischen Höhepunkt der Ruhrtriennale. Helgaths stille, nicht steile, aber stetig steigende Karriere liefert den beruhigenden Beweis, dass man mit Talent und akribischem Fleiß auch ohne medialen Donnerhall internationale Anerkennung finden kann. Das betrifft mehr als Helgaths Leistung als Chorleiter, der nicht nur das Chorwerk Ruhr zu einem absoluten Spitzenensemble geformt hat. Auch die Programmzusammenstellungen zeugen von beeindruckenden Repertoire-Kenntnissen und einem feinen Gespür für ebenso gut durchdachte wie spannende Kombinationen. Hinter dem etwas zufällig klingenden Titel Schwerkraft und Gnade verbergen sich kleinere und größere Perlen der modernen Chormusik von Igor Strawinsky, Lili Boulanger und Francis Poulenc.

Francis Poulencs Stabat Mater aus dem Jahr 1951 ist sicher keine Neuentdeckdung. An diesem tief inspirierten, gleichwohl farbigen und klangsinnlichen Werk, mit dem sich Poulenc wohltuend von frömmelnd katholischen und knochentrockenen protestantischen Chormusiken der damaligen Zeit abhob, beweist Helgath im Umgang mit dem Orchester ein Talent, das nicht jedem noch so tüchtigen Chorleiter gegeben ist. Das Orchester, in diesem Fall die wie stets hoch engagierten und kompetenten Bochumer Symphoniker, führt er nicht minder sorgfältig als seinen zu gewohnter Hochform auflaufenden Chor. Damit werden auch die symphonischen Ansprüche des Werks auf hohem Niveau erfüllt.

Seine Tugenden, was feinste dynamische Abstufungen, Intonationsstabilität, Textverständlichkeit und perfekte Phrasierung angeht, demonstriert das Chorwerk Ruhr zuvor an zwei weniger bekannten kurzen, schlichten, aber im Detail heiklen a-cappella-Vertonungen des Ave Maria und des Pater Noster von Igor Strawinsky.

Die größte Überraschung bietet der Abend mit drei groß besetzten Motetten für Chor und Orchester der 1918 im Alter von nur 24 Jahren verstorbenen Komponistin Lili Boulanger. Mancher hielt oder hält sie für noch begabter als ihre ältere Schwester Nadia. Die Kraft und Inspiration, die von ihren Chorwerken ausgehen, verbunden mit einer brillanten Orchestrierung und differenzierten Führung der Vokalstimmen, all das unterstreicht die überragende Begabung der Komponistin, was Helgath und seine Mitstreiter nachhaltig zum Ausdruck bringen.

Die meist kleineren Solo-Partien sind bei Sopranistin Sheva Tehoval, Mezzosopranistin Hasti Molavian und dem Tenor Timo Schabel ebenfalls vorzüglich aufgehoben. Großer Beifall für ein Konzert der Extraklasse.

Exotisch und esoterisch geht es im Salzlager der Zeche Zollverein zu, als das Kölner Schlagquartett im Rahmen der Ruhrtriennale Michael Rantas hundertminütige Meditation Yuen Shan zum Klingen bringt.

Das Publikum gruppiert sich um die mit über hundert Gongs, Tamtams, Trommeln und weiterem Schlagwerk aller Art bestückte Spielfläche. Noch vor dem ersten Ton wird die Neugier auf ein außergewöhnliches Konzerterlebnis geweckt und man wird nicht enttäuscht.

Der 1942 geborene Komponist arbeitete 30 Jahre an seiner gewaltigen Komposition, in der er seine Erfahrungen aus einem mehrjährigen Aufenthalt in Taiwan verarbeitete. Besonders beeindruckte ihn der Yuen Shan, der die Hauptstadt Taipeh überragende „vollkommene Berg“, nach dem er sein Werk benannte. Die spirituellen Eindrücke, verbunden mit den Erkenntnissen aus seiner engen Zusammenarbeit mit Komponisten wie Harry Partch und vor allem Karlheinz Stockhausen, schlagen sich in seinem Werk nachhaltig nieder.

In vier Abschnitten reflektiert Ranta die Phasen des menschlichen Lebens von der Entstehung bis zum Abschied. Mit raffinierten elektronischen Verfeinerungen und Rückkopplungs-Techniken scheinen die magischen Klänge in kosmische Sphären zu entrücken. Die unzähligen Gongs aller Art und Größe verstärken die buddhistisch angehauchte spirituelle Wirkung der Performance. Trotz der gewaltigen Batterie an Schlaginstrumenten bestimmen feine, differenzierte, zerbrechliche und filigran miteinander verwobene Klänge das Werk.

Keine leichte Aufgabe für die vier über den Raum verteilten Musiker des Schlagquartetts Köln, die Klanggeflechte zu koordinieren, von den ohnehin hohen spieltechnischen Anforderungen ganz zu schweigen. Mit seinen reichen Erfahrungen im Umgang mit besonders anspruchsvollen Herausforderungen ist das 1989 gegründete Ensemble allerdings auch für diese spezielle Aufgabe bestens prädestiniert und löst sie mit phänomenaler Präzision und Sensibilität.

Das zahlreiche Publikum zeigt sich sichtlich beeindruckt von der Klangreise in höhere Sphären und spart nicht an entsprechendem Beifall.

Pedro Obiera