O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ursula Kaufmann

Ruhrtriennale 2022

Gegen Kolonialismus, für Frauenrechte

HILLBROWFICATION/I AM 60
(Constanza Macras, Wen Hue)

Besuch am
25. August und 2. September 2022
(Premieren)

 

Ruhrtriennale, Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg, PACT Zollverein Essen

Mit kleinen, aber feinen und nachhaltig wirkenden Beiträgen wie zwei Tanzkreationen aus Afrika und China setzt die Ruhrtriennale stärkere Akzente als mit den großen, in diesem Jahr ziemlich missglückten Musiktheater-Projekten.

Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus zieht sich wie ein roter Faden durch die Programme der Ruhrtriennale unter der Leitung von Barbara Frey. Einen vor Energie sprühenden Beitrag erarbeitete die Berliner Choreografin Constanza Macras mit 21 jungen Leuten aus einem von Gewalt und sozialen Spannungen besonders betroffenen Stadtteil Johannesburgs.

Hillbrow heißt das Stadtviertel und unter dem Titel Hillbrowfication ist eine einstündige Vision einer besseren Welt entstanden, in der der Tanz, nicht Geld, Macht und Mauern, den Ton angeben soll. Nach der erfolgreichen Premiere am Berliner Gorki-Theater wurde die Kreation jetzt auch in der voll besetzten Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks begeistert gefeiert.

Aliens landen auf der Erde und wollen eine neue Weltordnung errichten, in der das Leben vom Tanz bestimmt wird. Fantasievolle, vor Kraft berstende, aber auch humorvolle und leise Episoden, die die jungen Südafrikaner konzipiert haben, fügt Constanza Macras zu einer kurzweiligen Revue zusammen. Teilweise inspiriert von heimischen Erzählungen und Mythen, die deutsche Zuschauer nicht in jedem Detail entschlüsseln können. Was aber auch nicht nötig ist. Denn die Vitalität, die innere und äußere Spannung der Produktion bleiben bis zum letzten Takt spürbar.

In bunten Fantasiekostümen von Roman Handt spielen die Tänzer virtuos mit afrikanischen und europäischen Bewegungsmustern. Stampfende Stammesrituale und Persiflagen auf die hohe Ballett-Kunst vermischen sich, gipfelnd in einer Gewaltorgie, in der sich die angestaute Wut über Unterdrückung und soziale Ungleichheit explosiv entlädt. Dass in dieser hollywoodreifen Prügelszene die Mädchen bisweilen die Oberhand gewinnen, ist durchaus beabsichtigt. Mit diesem Exzess stellt Constanza Macras eine Verbindung zur Realität her und entgeht damit der Gefahr, sich in einem kitschigen Heile-Welt-Idyll zu verlieren. Gelungen ist ihr damit eine körperbetonte Gratwanderung zwischen Utopie und Realität, niemals verbissen oder kopflastig, in der sich die Lebensfreude selbst in dunkleren Szenen und Situationen behauptet.

Langanhaltender, stürmischer Beifall für einen besonders originellen Beitrag der Ruhrtriennale.

Als „Archiv kollektiver Erinnerung“ sieht die chinesische Choreografin und Tänzerin Wen Hui ihren Körper. Und mit ihm bescherte sie sich im letzten Jahr zu ihrem 60. Geburtstag ein sehr persönliches Geschenk mit der Solo-Performance I am 60. Auf PACT Zollverein hinterließ sie damit im Rahmen der Ruhrtriennale tiefe Eindrücke.

Als Mitbegründerin der ersten freien Tanzcompagnie Chinas, des Living Dance Studios, hat sie internationale Anerkennung gefunden. In ihrem neuen Stück kommentiert und vertieft sie mit minimalen, aber hoch konzentrierten Bewegungen und Gesten Episoden ihres Lebens. Es ist eine stille Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Erinnerungen tauchen auf an ihre Kindheit, in der sie sich als Mädchen zurückgesetzt fühlte, an eine demütigende Abtreibung, die Untreue ihres Ehemannes, das Gefühl der Verlassenheit, die kraftspendende Begeisterung für den Tanz: alles aus der rückblickenden Sicht einer Frau auf der Suche, in männerdominierten Gesellschaften ihr eigenes Profil und ihre Identität zu finden.

Die Rückschau in die Vergangenheit wird durch Video- und Bilddokumente optisch untermauert, die bis in das Schanghai der 1930-er Jahre zurückführen, in denen man sich eine Befreiung von starren konfuzianisch-patriarchalischen Strukturen erhoffte. Am Ende steht sie verloren auf einer wild befahrenen Straßenkreuzung einer modernen chinesischen Großstadt. Und mit ihrer zierlichen Figur wirkt sie vor den großen Videoprojektionen noch zerbrechlicher. Sie klagt nicht an, sondern sie lässt Erinnerungen an traumatische und schöne Momente, an Illusionen und zerplatzte Träume an sich heran und antwortet mit ihrem Körper. Mit kleinen, meist langsam zelebrierten, mitunter nur angedeuteten Bewegungen ihrer Füße oder Hände, selten nur mit großen Gesten des ganzen Körpers. Eine leise, intime Geschichte einer Frau, die sich unter Schmerzen emanzipierte. Ohne Klagen, ohne Anklagen.

Wen Huis Tanzkreation reiht sich in die Erfolgsgeschichte der kleinen, unspektakulären Produktionen ein, von denen derzeit, im Gegensatz zu den abgehobenen, unverhältnismäßig aufwändigen Großprojekten des Festivals, die nachhaltigsten Impulse der Ruhrtriennale ausgehen. Allerdings ist Wen Huis Arbeit ein Gastspiel und keine Eigenproduktion der Triennale. Mit den eigenen Kreationen hatte Intendantin Barbara Frey bis jetzt erheblich weniger Glück.

Pedro Obiera