O-Ton

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Schumannfest 2022

Parforceritt

PASSACAGLIA ON DSCH
(Ronald James Stevenson)

Besuch am
10. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Schumannfest 2022, Tonhalle, Düsseldorf

Igor Levit scheint ein Freund von Mammutprojekten zu sein. Etwa hat er sämtliche Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, seine Diabelli-Variationen, Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen und Frederic Rzewskis umfangreiches Variationswerk The people united will never be defeated auf Tonträger gebannt. Ein weiterer Superlativ war die Aufnahme der 24 Präludien und Fugen Dmitri Schostakowitschs plus die imposante Passacaglia on DSCH aus der Feder des britischen Komponisten Ronald James Stevenson. Dieses Programm ist auf drei Alben verewigt. Das Anhören dauert ungefähr vier Stunden. Aber auch live auf der Bühne nimmt er jede Herausforderung an. So kommt er in die Düsseldorfer Tonhalle, um Stevensons Kolossalwerk aus dem Jahr 1962 mit seiner Dauer von rund 90 Minuten nonstop zu präsentieren – eine große Herausforderung für den Pianisten wie das Publikum.

Die Passacaglia ist ursprünglich ein spanischer Volkstanz. Anfang des 17. Jahrhunderts fasst sie Fuß in der Gattung der komponierten Kunstmusik, zunächst in Italien und breitet sich während der Barockzeit in ganz Europa aus. Dabei handelt es sich um eine Tanz- beziehungsweise Variationsform im Dreiermetrum. Basis ist ein ostinater Bass, der nicht immer im Original wiederholt, sondern im weiteren Verlauf mehr oder weniger abgewandelt wird. Formal typisch ist die Gliederung in gleichlange, geradetaktige, durch Kadenzierung deutlich abgegrenzte Perioden, die meist vier- oder achttaktig sind. Während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerät die Passacaglia außer Gebrauch. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die so genannte alte Musik und deren kompositorische Rezeption wiederentdeckt wurde, wird sie wieder verwendet. Franz Liszts Variationen über „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ und der vierte Satz der vierten Sinfonie von Johannes Brahms sind die bekanntesten Beispiele eines Rückbezugs auf das barocke Modell. Viele Passacaglien wurden in dieser Zeit für Orgel geschrieben. Berühmte Vertreter sind Josef Gabriel Rheinberger, Sigfrid Karg-Elert oder Max Reger. Größere Bedeutung erlangte die Passacaglia im letzten Jahrhundert. Die Wiener Schule ist vertreten mit etwa Arnold Schönbergs Melodram Pierrot Lunaire, Alban Bergs Oper Wozzeck und Anton Weberns Passacaglia für Orchester, op. 1. Ernst Krenek, György Ligeti oder Andrzej Dobrowolski verwendeten ebenfalls diese Form. Auch Dmitri Schostakowitsch komponierte ein paar langsame Sätze in dieser Form: das Zwischenspiel in der Oper Lady Macbeth von Mzensk, in der 8. und 15. Sinfonie, im 2. Klaviertrio und im 1. Violinkonzert.

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Der britische Komponist Ronald James Stevenson, der von 1928 bis 2015 lebte, ist so gut wie unbekannt. Er schrieb viele Transkriptionen überwiegend für Klavier von Komponisten wie Henry Purcell, Eugene Ysaÿe und Frederick Delius. Ferner schrieb er symphonische Werke, Kammermusik, Werke für Klavier, Orgel und für das Cembalo etliche Melodien. Die großangelegte Passacaille on DSCH aus dem Jahr 1962 ist sein berühmtestes Werk. Mit DSCH ist das viertönige Motiv D-Es-C-H gemeint. Das sind die Initialen Dmitri Schostakowitsch, dem das Werk gewidmet ist. Er verwendete sie ebenfalls als musikalische Signatur in einigen Stücken, etwa in seinem achten Streichquartett. Das Thema respektive der Grundbass besteht aus dreizehn Tönen, das von dem Viertonmotiv abgeleitet ist. Das immens große einsätzige Opus ist unterteilt in drei große Abschnitte mit vielen musikalischen Stilen und Formen. Der erste Teil beinhaltet Musikstile wie die Sonatenform, einen Walzer, eine komplette Suite à la Johann Sebastian Bach und ein Nocturne. Nahtlos über geht es anschließend auf Weltreise, in der unter anderem ein Blick auf eine Kriegsvision, ein aufstrebendes Afrika und ein mit Lenin in Beziehung gebrachtes „Frieden, Brot und das Land“ vorkommen. Der letzte Teil ist der Musikgeschichte gewidmet, in der eine immense Tripelfuge oder Variationen auf ein Thema namens „Adagissimo barocco“ Platz finden. Fast 20 Kapitel sind es, in denen das Grundmotiv über 300 Mal in variabler Gestalt vorkommt.

Mit dem dicken Notenbuch in der Hand kommt Igor Levit auf die Bühne, verbeugt sich kurz, platziert es auf dem Notenpult, schlägt die erste Seite auf und meißelt sofort das Grundmotiv D-Es-C-H in die Tastatur. Entgegen der üblichen Sitte – gerade, wenn es sich um weitgehend unbekannte und nicht leicht zugängliche Werke handelt – erspart er sich einführende Worte. Doch die Noten bei einem Soloabend mitzubringen, ist in diesem Fall legitim, ist doch dieses Opus ungemein komplex, vielschichtig und Usus in Sachen moderner Musik. Pianistisch lässt der Pianist keine Wünsche offen. Hochgradig schwere Passagen wie wieselflinke Läufe und gebrochene Akkorde gelingen ihm traumwandlerisch sicher hochvirtuos. Stets achtet er auf die deutliche Herausarbeitung des immer wiederkehrenden Grundmotivs und die Anbindung mit den Tönen B-A-C-H im dritten Abschnitt. Auch die komplexen Verschachtelungen, Tempo- und Rhythmuswechsel spielt er tadellos. Nur ist seine Anschlagskultur nicht immer sensibel. Das Piano perlt zwar zart, wie dahingehaucht. Doch ab dem Mezzoforte aufwärts kommen die Dynamiken zu derb, grob von der Bühne. So kommen feine musikalische Strukturen und Phrasierungen nicht immer deutlich zum Tragen wie beim Pibroch, dessen Lamento auf die ermordeten Kinder während des Zweiten Weltkriegs feiner herausgearbeitet erklingen kann. Es wundert auch nicht, dass ab etwa der Hälfte des Vortrags der Konzertflügel anfängt zu leiden. Gerade die Töne, die durch das Anschlagen von drei Saiten entstehen, schwingen nicht mehr harmonisch. Der Fachausdruck für solche Unreinheiten lautet Schwebung. Respekt zu zollen ist jedenfalls für Levits nicht nachlassende Konzentration während seines Spiels von ungefähr 80 Minuten.

Kaum ist der letzte Ton im Piano verklungen, zeigt sich das sehr überschaubare Publikum begeistert. Es honoriert die großartige Passacaglia und den Parforceritt Levits mit frenetischem Beifall, der in langanhaltende, stehende Ovationen mündet.

Hartmut Sassenhausen