O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Pedro Greig

Düsseldorf-Festival 2021

Aufsteigende Pyramiden

HUMANS 2.0
(Yaron Lifschitz)

Besuch am
19. September 2021
(Premiere am 17. September 2021)

 

Düsseldorf-Festival, Theaterzelt am Burgplatz, Düsseldorf

Ja, jetzt pulst es richtig im Theaterzelt auf dem Burgplatz in der Altstadt von Düsseldorf. So wollen es Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen als Künstlerische Leiter des Düsseldorf-Festivals sehen. Auch bei der dritten Aufführung von Circa ist das Zelt voll. Es ist so etwas wie ein Befreiungsschlag. Nach fast zwei Jahren strömt das Publikum wieder in das Zelt. Dahmen, der seit dem vergangenen Festival auf das Thema Sicherheit geeicht ist, ist wichtig, dem Publikum noch einmal zu erklären, dass es sich hier absolut wohlfühlen kann. „Sie spüren das Lüftchen um ihre Nasen“, sagt er in der üblichen Begrüßungsansprache vor der Aufführung. Das sei ein Hinweis auf die neu eingebaute Belüftungsanlage, die genau wie zahlreiche Filteranlagen im Vorzelt dafür sorge, dass man unbesorgt auf Masken verzichten könne. Während man trotz 3G-Regeln in den übrigen Spielstätten weiterhin die Maskenpflicht beachte. Aber er stelle natürlich jedem frei, von der Maske auch im gut belüfteten Zelt Gebrauch zu machen, wenn sich jemand dabei wohler fühle. Die Panikmache der Regierung in den zurückliegenden Monaten zeigt nach wie vor ihre Wirkung.

Aber wenn wir ehrlich sind: So richtig interessiert das heute Abend niemanden. Jetzt wollen die Menschen eine australische Gruppe sehen, der es trotz aller Beschränkungen gelungen ist, nach Düsseldorf zu kommen, um hier ihre Europa-Premiere zu feiern. Choreograf Yaron Lifschitz erzählt vom theoretischen Überbau seiner Schau nach dem Vorläufer 2017. „Die Fortsetzung ist eine Fantasie über den Menschen der Welt von Big Data, eine Mischkreatur, die ihre organische Substanz technisch gepimpt hat und sich deshalb womöglich schneller, stärker, unberechenbarer bewegt“. Wenn das so ist. Richtig ärgerlich ist, dass dem Kapitel im Programmheft ein Zitat des österreichischen Journalisten Helmut Ploebst aus dem Standard hintangestellt ist, das an Dummheit im ohnehin fehlergefluteten Programmheft kaum zu übertreffen ist. „Die Geschlechterbinarität im Stück ist voller Zwischentöne.“ Geht es denn noch? Es ist ein wahres Glück, dass das Publikum sich selbst von solchen kruden Zitaten nicht abschrecken lässt. Denn das will Akrobatik. Und die bekommt es.

Foto © Pedro Greig

Man kann sich das lebhaft im privaten Haushalt vorstellen. „Hör mal, beim Düsseldorf-Festival kommt Circa wieder“, entdeckt der Ehemann im Internet die Veranstaltung. „Ach ja. Da waren wir doch schon mal. Die waren toll“, antwortet seine Frau. „Worum geht es denn?“ Der Ehemann liest. „Das verstehe ich nicht. Geht irgendwie um Liebe …“ Die Ehefrau stellt die Wurstplatte zum Abendessen auf den Tisch. „Macht nichts. Da gehen wir trotzdem hin!“ Und so füllen sich die Reihen im Theaterzelt, entgegen aller Aussagen im Programmheft. „Amazing. Culture works“, riefe der australische Choreograf angesichts des proppevollen Zeltes vermutlich aus, in völliger Unkenntnis, dass die deutschen Kulturarbeiter gerade völlig durchdrehen und ihre Arbeit hinter eine Geschlechterschau stellen. Bei Circa gibt es solche Probleme nicht. Da gibt es weder Opfergruppen noch Menschen, die sich um Gleichberechtigung kümmern, weil sie in der Artistik längst Alltag ist.

Die Bühne ist denkbar einfach gestaltet. Eine kreisrunde weiße Fläche wird von Scheinwerfern eingerahmt. Hier versammeln sich zehn Artisten, die zur hämmernden Musik von Ori Lichtik die kommenden 70 Minuten gestalten werden. Und sie schrecken vor nichts zurück. Vom Szenenapplaus begleitet, zeigen die Artisten, was alles nicht menschenmöglich ist. Sie stürzen sich in Todessprünge, also solche Sprünge, von denen jeder normale Mensch überzeugt ist, dass sie im Tode enden, bauen springend Pyramiden in drei Ebenen und schaffen immer wieder Überraschungsmomente, in denen ein Überleben der ausführenden Person eigentlich unmöglich erscheint. Frauen fangen Männer im letzten Moment auf oder erheben sich in schwindelerregende Höhen, aus denen die Männer sie sanft hinabgleiten lassen. Es ist zu viel. Wenn die Artistin sich am Doppelseil vergnügt, bekommt man die Schwierigkeitsgrade überhaupt nicht mehr mit, weil alles immer nur vogelgleich erscheint. Immer wieder scheint die Schwerkraft aufgehoben, und immerhin ist beruhigend zu sehen, dass die Artisten den Schweiß von sich sprühen. Denn jedes Kunststück erscheint mit einer Leichtigkeit, die kaum noch nachvollziehbar ist.

Das Publikum kennt keine Grenzen der Begeisterung mehr. Der Applaus im Stehen hält minutenlang an. Da wird getrampelt und Bravo geschrien. Und den Artisten ist anzusehen, dass sie sich auch in der dritten Vorstellung wie kleine Kinder über die Begeisterung freuen, die ihre kaum vorstellbaren Leistungen hervorrufen. Damit geht einer der absoluten Höhepunkte im Düsseldorf-Festival zu Ende. Es klingt nach Finale, aber davon ist das Düsseldorf-Festival noch weit entfernt. Gerade haben die Menschen, die für das Festival arbeiten, das Brückenfest gefeiert. Bis zum 27. September hält das Düsseldorf-Festival unter anderem noch eine unbedingt besuchenswerte Aufführung bereit. Das ist das Theaterstück Im_Process, das bereits beim Asphalt-Festival für Begeisterung sorgte, bei dem es in Koproduktion mit dem Düsseldorf-Festival entstanden ist. Wer keine Karten mehr bekommen hat, bekommt jetzt noch einmal eine Chance – und sollte sie nutzen.

Michael S. Zerban