O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Hans Jörg Michel

Hänsel und Gretel 2017

Der Tradition verhaftet

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Besuch am
9. Dezember 2017
(Premiere am 26. Oktober 1969)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Oper Düsseldorf

Rosina Leckermaul ist eine Hexe aus einem Märchen der Brüder Grimm. Und wie es sich für eine Hexe gehört, ist sie ziemlich alt. Seit 1893 wird sie auf so ziemlich allen Bühnen dieser Welt ausgebuht. In Düsseldorf hat 1969 Andreas Meyer-Hanno die Oper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck inszeniert. Und es gibt in der Stadt die Behauptung, dass es keinen „echten Düsseldorfer“ gibt, der die Inszenierung seither nicht mindestens einmal in seinem Leben gesehen hat. Ob das stimmt, mag dahingestellt sein; Tatsache ist, dass die Inszenierung seither ununterbrochen jährlich wiederaufgenommen wird. Im vergangenen Jahr hat Esther Mertel sie behutsam überarbeitet, jetzt findet die 607. Vorstellung statt.

Der Saal ist nahezu vollständig gefüllt. Mit einem Publikum, wie es sich schöner kein Intendant vorstellen kann. Hier ist wirklich jedes Alter vertreten. Und die Schwätzer während der Aufführung werden auch nicht die Kinder sein, die sich in der Kindertagesstätte zu wenig zu erzählen hatten – die sitzen alsbald staunend auf den Sitzkissen für ihre Plätze – sondern diejenigen, die man also zu Recht als alte Klatschweiber bezeichnen darf. Dass hier weniger das typische Opernpublikum versammelt ist, misst sich auch daran, dass die rein musikalischen Passagen eher als „Entspannungspausen“ genutzt werden. Aber es kann ja auch mal etwas ungezwungener zugehen in der Oper. Der Musik Humperdincks schadet es kaum. Und laut genug ist sie allemal.

Die große Herausforderung des Komponisten ist ja die Diskrepanz zwischen der Musik in Wagnerschen Dimensionen und dem Gesang. Hier ist schon so mancher Dirigent gescheitert. Gerne in Zusammenarbeit mit dem Regisseur.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Meyer-Hanno zeigt schon in der Ouvertüre, dass er sich am Rezept jeder erfolgreichen Hänsel-und-Gretel-Aufführung orientiert. Da erlaubt er einen ersten Blick auf die Bühne von Gerda Zientek. In spätromantischer Tradition ist da hinter einer schiefen Ebene im Waldboden-Look ein Prospekt zu sehen, der mal Sonne, mal Mond über einem Wald zeigt. In dieser Grundkonstellation, bei der später nur die Bäume links und rechts wechseln, verändert sich die Grundfläche. Im ersten Akt steht da die rückwärtige Hälfte des Besenbinder-Häuschens, im zweiten eine Waldlichtung und im dritten Akt ein zuckersüßes Lebkuchenhaus mit Backhaus im Vordergrund. Das alles hat Zientek liebevoll „altbacken“ gestaltet. Dazu passen die Kostüme von Inge Diettrich, die bei Hänsel, Gretel und ihren Eltern Sozialkolorit bekommen, so richtig fantasievoll aber bei Sand-, Taumännchen und der Hexe werden. In dieses Märchen kann man sich so richtig schön reinknien.

In der Personenführung zeigt Meyer-Hanno etliche bezaubernde Einfälle. Und erntet für den Hexenritt, das Bravourstück jeden Regisseurs, Szenenapplaus. Zu Recht, denn das ist Theater pur. Aber wie viel schöner ist das Engelchen, das im Souffleurkasten verschwindet oder der Auftritt des Taumännchens, das so herrlich mit Goldflitter um sich wirft. Da werden nicht nur Kinderherzen schwach. Gut, letztendlich gewinnt die Hexe, weil sie ihre Rolle konsequent bis in die Applausordnung hinein spielt. Aber so richtig berührt haben die beiden Mädchen, die in der Traumszene zu Füßen von Hänsel und Gretel liegen. Großes Kompliment.

Komplimente gibt es auch für das Ensemble. Katharina von Bülow gibt einen sehr burschikosen Hänsel, also genauso, wie er sein soll, auch wenn sie in den Künstlerbiografien des Programmheftes nicht auftaucht. Gretel wird sehr spielfreudig von Lavinia Dames gegeben. Den Stimmen ist gemein, dass sie, ebenso wie die Hexe Morenike Fadayomi und Renée Morloc als Mutter Gertrud, sehr präzise in der Lage zwischen Wagner und Strauss changieren. Hier ergänzt eine Stimme die andere. Das ist begeisternd, weil sich so ein sehr harmonisches Stimmbild ergibt. Stefan Heidemann überzeugt als Vater vor allem im dritten Akt mit seinem Bariton, auch wenn er in der Personenführung naturgemäß etwas zurückliegt. Monika Rydz als Sandmännchen gefällt mit ihrem sauber geführten Sopran, Dimitra Kotidou als Taumännchen vor allem durch ihren zauberhaften Auftritt. Mathias Staut hat den Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor einstudiert, der das Publikum mit seinem kurzen Auftritt berührt.

Dirigent Wen-Pin Chien gelingt mit großer Geste und deutlicher Kommunikation bis auf wenige Ausnahmen das Kunststück, die Balance zwischen Sängern und den Düsseldorfern Symphonikern zu halten. Obwohl es ihm hörbar schwerfällt, nimmt er das Orchester an den entsprechenden Stellen in der Dynamik zurück und gibt den Sängern den Raum, den sie verdienen.

Insgesamt ist Hänsel und Gretel eine wunderbar frische, uralte Inszenierung, der man noch viele Jahre wünscht. In Zukunft dann auch vielleicht wieder mit pünktlichem Beginn. Das Publikum applaudiert begeistert, buht mit Elan die Hexe aus, einzelne erheben sich und die Kinder sind vollkommen überfordert, aber sehr glücklich.

Michael S. Zerban