O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Museum Jerusalem

Kunststücke

Spiegel seiner selbst

In Frankreich und Amerika schon lange gerühmt, ist Chaïm Soutine, der von 1893 bis 1943 lebte, innerhalb von Ausstellungen im deutschsprachigen Raum eher wenig präsent, zuletzt 2008 im Kunstmuseum Bern 2008 mit der Ausstellung Soutine und die Moderne und 1981 im Westfälischen Landesmuseum Münster. Die Kunstsammlung NRW, K 20 Düsseldorf präsentiert nun in einer umfassenden Ausstellung Chaïm Soutine – Gegen den Strom noch bis Mitte Januar kommenden Jahres. In Kooperation mit dem Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, und dem Kunstmuseum Bern sind rund 60 Gemälde, die zwischen 1918 und 1928 entstanden, zu bewundern.

Chaïm Soutine – Foto © N.N.

Zu bewundern im wahrsten Sinn des Wortes ist sein authentisch expressiver Malstil, der Menschen und Welt in einer häufig hoffnungslosen Kipp-Balance darstellt. Ein Wunder auch, das die Frage aufwirft, warum Soutine bis heute im Schatten der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht. In der kanonisierten Kunstgeschichte mehr oder weniger nur eine Randnotiz, gilt er nachfolgenden Künstlergenerationen wie Willem de Kooning, Francis Bacon, Jackson Pollock, Marlene Dumas, Jean Dubuffet oder Georg Baselitz als inspirierender Pionier der gestischen Malerei.

Dass die Berner Direktorin Nina Zimmer, die damalige Kuratorin der erwähnten Soutine-Ausstellung, jetzt als Kooperationspartnerin an diesem Coup beteiligt ist, unterstreicht den Wert der fulminanten Soutine-Wiederentdeckung in Düsseldorf. Soutines kurzer Aufstieg unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs, seine Authentizität einer eigenständigen Künstler-Persönlichkeit wird von märchenhaften Erzählungen und narrativen Arabesken begleitet.

Zwanzigjährig kommt Soutine aus einem Stetl in der Nähe von Minsk mittellos und mit dem festen Vorsatz, Maler zu werden, in Paris an. Mehr als zehn entbehrungsreiche Jahre dauert es, bis es durch die Freundschaft mit Amedeo Modigliani einen entscheidenden Schritt vorwärts geht. Modigliani überredet seinen Galeristen Léopold Zborowski, ihm eine Chance zu geben. Zborowski gewährt Soutine ein kleines Stipendium und schickt ihn von 1919 bis 1922 in das Pyrenäendorf Céret. In der dörflichen Abgeschiedenheit, die schon für Matisse, Picasso und Braque einen künstlerischen Aufbruch bedeutete, schafft Soutine über 200 Werke.

Landschaften, eckig und kantig geformt, finden sich formal in extraoriginären Porträts wieder, die in der bildenden Kunst bis dahin kaum vorkommen. Es sind ungeschönte, asymmetrisch verformte, verzerrte Menschenbilder, deren Modelle er in der Nachbarschaft findet. Menschen der Straße, psychisch Kranke, Junge und Alte, vor allem solche, die im Abseits stehen. Statisch instabil, haltlos, kippen sie häufig zur rechten Seite weg. Es drängt sich der Eindruck auf, dass er in den porträtierten Menschen sich selbst wie in einem Spiegel sieht.

Außenseiter, wie er selbst in den künstlerischen Milieus Paris‘ und jetzt in der Dorfgemeinschaft, sind ihm die Leiden der menschlichen Kreatur vertraut. Schiefe Nasen, ungleiche Augenpaare und übergroße rote Ohren, Symbole verletzter Seelen, denen Soutine nichtsdestotrotz gleichsam eine unverkennbare Persönlichkeit gibt.

Die mit obsessivem Farbauftrag gemalten Porträts von Pagen, Zimmermädchen, Messdienern und Köchen sind Liebeserklärungen an das Leben jener Menschen. Bildergeschichten von Menschen, die in keiner Historie aufgehoben sind. Bertolt Brechts 1935 im dänischen Exil geschriebenes Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters – „Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen.“ – liest sich wie ein nachgereichter Text zu Soutines Céret-Porträts.

Foto © N.N.

Mit mehr als 200 Gemälden – noch mehr hat er, als ihm unzureichend erscheinend, noch in Céret zerstört – kehrt Soutine 1922 nach Paris zurück – und ein Märchen beginnt, das unglaublich erscheint, wäre es nicht eine wahre, historisch belegte Geschichte. Der amerikanische Sammler Alfred C. Barnes, der von 1872 bis 1951 lebte, entdeckt zufällig in einem Café in Montparnasse – so eine der vielen Legenden, die sich zu einem undurchsichtigen Soutine-Mythos in den folgenden Jahren verdichten – Le Petit Pâtissier, nach einer anderen Variante Chef pâtissier. Er ist begeistert und überzeugt, eine Entdeckung gemacht zu haben und kauft 52 Werke. Über Nacht wird Soutine berühmt. Er kann fortan von seiner Kunst leben.

Soutine wohnt ab dem Winter 1922 in Cagnes-sur-Mer. Er malt weiterhin Halb-/Dreiviertelporträts, wobei die Hintergründe zunehmend neutraler werden. Geschlossene, kurvige Formensprache, fließende Pinselführung können als Ausdruck seines neuen Selbstbewusstseins angesehen werden.

Ab 1925 wieder in Paris, studiert er intensiv Bilder von Rembrandt. Dessen Geschlachtete Ochsen aus dem Jahr 1655 werden ihm zu Erweckungserlebnis in expressivem Rot. Le Bœuf écorché, entstanden 1925, eine metaphorische Imagination von Leben und Tod, wie er im Stil der Neuen Sachlichkeit das menschlich Existenzielle des sogenannten Halbmilieus thematisiert.

Dass Soutine infolge vieler Hungerjahre 1943 an einem Magengeschwür stirbt, scheint, als würde seine Lebensgeschichte einer Dramaturgie von Shakespeare-Werken folgen. „Fest steht, dass Soutine ein Sagenheld ist; er sprengt den Rahmen des persönlichen Schicksals und wird in gewisser Weise zum Ereignis. Der Beginn seines bewegten Lebens lässt das tragische Ende schon vorausahnen“, schreibt Emil Szittya.

Chaïm Soutine. Gegen den Strom im K 20 erzählt eine Geschichte, die künstlerisch wie auch biografisch bizarr, einzigartig und märchenhaft zugleich ist. Dass sie die Kunstgeschichte im Kontext der Ècole de Paris parallel zu der Ausstellung Chagall, Matisse, Miro – Made in Paris im Museum Folkwang zeigt, ist ein beredtes Zeugnis für die reichhaltige Kunst- und Kulturlandschaft in Nordrhein-Westfalen.

Peter E. Rytz