O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ralf Puder

Asphalt-Festival 2021

Zu Beginn die Vergangenheit

IM PROCESS
(Christoph Seeger-Zurmühlen, Juliane Hendes)

Besuch am
30. Juni 2021
(Uraufführung)

 

Asphalt-Festival, Düsseldorf, Berger Kirche

Auch in diesem Jahr eröffnet das Theaterkollektiv Pièrre.Vers das Asphalt-Festival, allerdings an einem eher unscheinbaren Ort. Die evangelische Berger Kirche stammt aus dem 17. Jahrhundert und liegt in der Düsseldorfer Altstadt in einem Hinterhof unweit des Carlsplatzes. Die Vorfreude wird von einer gehörigen Portion Skepsis begleitet. Um eine Gerichtsverhandlung soll es gehen und wieder irgendwas mit Nationalsozialismus. Gerichtssäle sind nicht eben bekannt für aktionsreiche Szenen. Und die Vergangenheit mag ja ganz interessant sein, aber ist es nicht auch mal gut mit dem ewigen Blick zurück? Zudem ist ein Rechtschreibfehler im Titel Im Process, der nicht erklärt wird, auch nicht so ermutigend. Aber letztlich hat sich das Publikum von all dem nicht abschrecken lassen. Die Uraufführung ist ausverkauft.

Ein performativer Akt zu Majdanek III – so der Untertitel – kann ja nur heißen, dass der letzte und umfangreichste Aufarbeitungsprozess, der 1975 in Düsseldorf begann, theatral aufbereitet werden soll. Majdanek war ein Vernichtungslager in der Nähe der Stadt Lublin im Osten Polens, in dem seit 1942 mehr als 250.000 Juden umgebracht worden sein sollen. In einer 15-jährigen Vorbereitungsphase wurde gegen 15 von mehr als 1.500 Wächtern und Aufseherinnen ermittelt. Der Prozess zog sich bis 1981 und war in mehrfacher Hinsicht umstritten. Die Hauptverantwortlichen waren längst bestraft, sofern sie sich nicht schon durch Selbstmord der Strafverfolgung entzogen hatten. Den unglaublich hohen Kosten des Prozesses standen vergleichsweise milde Urteile gegenüber. Und schließlich ließ der Vorsitzende Richter am Landgericht, Günter Bogen, ganze Schulklassen am Prozess teilhaben. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war es trotzdem ein Erfolg, weil es erstmals gelang, eine Kollektiv- in eine Individualschuld zu überführen. Bogens Initiative ist zu verdanken, dass die Schüler anschließend einen Ort forderten, an dem sie sich weiter mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzen konnten. Das führte zur Gründung der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf. Und letztlich führte der Wunsch nach einer Art Weltgericht 2002 zur Gründung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

Foto © Ralf Puder

Julia Hendes hat den Düsseldorfer Majdanek-Prozess in einen preiswürdigen Text gegossen. Zwar flutet auch sie zunächst das Publikum mit Zahlen. Offenbar braucht der Mensch unvorstellbare Zahlen, um die Monstrosität eines Geschehens zu begreifen, auch wenn es im Koran heißt „Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet“. Dann aber lässt sie Justiz, Angeklagte und Opfer gleichermaßen zu Wort kommen, ohne zu werten. Die Gleichwertigkeit unterstreicht sie noch, indem die Darsteller ständig andere Rollen aller Seiten übernehmen. Am Ende hat der Zuschauer das Gefühl, ein unglaublich komplexes Thema durchdrungen zu haben, auch wenn viele Fragen offenbleiben. Vor allem aber sind die emotionalen Hintergründe ausgeleuchtet. Und da meint man, so manches Mal ein tiefes Durchatmen im Publikum zu hören.

Christoph Seeger-Zurmühlen hat den Text in eine wunderbare Inszenierung gegossen. Und das funktioniert deshalb besonders gut, weil Simone Grieshaber bei Bühne und Kostüm kongeniale Arbeit geleistet hat. Die Bühne ist von der Zuschauertribüne durch eine Glasfront getrennt, die sich milchig einfärben lässt. Einerseits ist damit der Blick auf die Podien verborgen, auf denen die Akteure an Tischen Platz nehmen, während der Vorsitzende Richter über allen thront, andererseits bietet die Einfärbung die Möglichkeit, Illustrationen von Idan Barzilay als Projektionen zu zeigen, die den lokalen Bezug zum Konzentrationslager herstellen. Dass Grieshaber die Beteiligten dann auch in 70-er-Jahre-Kleider steckt, ist zwar vollkommen richtig, ändert aber nichts an der gruseligen Mode jener Zeit. In diesem Umfeld sorgt Seeger-Zurmühlen mit dem einen oder anderen Trick dafür, dass die Darsteller ständig in Bewegung bleiben. Da ist man froh, dass es so nicht in Gerichten zugeht, aber hier keine Monotonie aufkommt.

Foto © Ralf Puder

Das Ensemble ist schlicht fantastisch. Anna Magdalena Beetz kann sich zwar als Vorsitzender Richter nicht so recht entfalten, bekommt aber dafür einen Schlussmonolog, den sie so vorträgt, dass er auch ganz sicher unter die Haut geht. Als Staatsanwalt macht Jonathan Schimmer eine hervorragende Figur. Paul Jumin Hoffmann gibt den widerlichen Neonazi-Verteidiger so überzeugend, dass man ihm wirklich nach der Vorstellung noch auflauern möchte, um ihm für seinen Zynismus noch eins einzuschenken. Pablo Vuletić spult als 17-jähriger Schüler aus dem Leistungskurs Geschichte einen umfangreichen Text in einer Professionalität ab, die tief beeindruckt. Julia Dillmann, Gosia Konieczna, Krzysztof Leszczynski und Alexander Steindorf sind Angeklagte, Zeugen, Opfer und Gutachter. Hut ab vor diesem Auftritt. Hier hätte man bei einer Aufzeichnung keine Szene nachdrehen müssen.

Bojan Vuletić liebt Kopfhörer. Obschon technisch irrsinnig aufwändig, sind diese akustischen Wunder inzwischen so weit entwickelt, dass sie narrensicher bei Aufführungen eingesetzt werden können. Und damit jede zweifelhafte Raumakustik ausblenden. Und so nutzt der Komponist auch sämtliche Effekte, gibt seiner Musik Feinheit und Tiefe, auch wenn er schon mal die Gefängnistüren schleifen lässt. Eine absolute Empfehlung für den 10. Juli, wenn er seine Uraufführung All quiet on the War Front auf dem Gustav-Gründgens-Platz vor dem Düsseldorfer Schauspielhaus zu Gehör bringen wird.

Einmal mehr ist dem Asphalt-Festival ein fulminanter Auftakt gelungen. Das Publikum honoriert es mit allem Applaus, der einer solch kleinen Zuschauerzahl möglich ist. Warum die Darsteller bei so viel Sympathie nicht entspannen und ihre Freude zeigen können, überrascht ein wenig. Klar ist, dass hinter allen am Festival Beteiligten angespannte Wochen der Vorbereitung in aller Unsicherheit liegen. Klar ist aber auch, dass den Zuschauern ein aufregendes Festival in aller Vielfalt bevorsteht.

Michael S. Zerban