O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Valentin Dobrun

Asphalt-Festival 2021

Tod aus dem Nichts

ALL QUIET ON THE WAR FRONT
(Bojan Vuletić)

Besuch am
10. Juli 2021
(Uraufführung)

 

Asphalt-Festival, Düsseldorf, Gustav-Gründgens-Platz

Kaum waren in Deutschland die ersten Kameradrohnen, also kleine, fernlenkbare Fluggeräte, auf dem Markt, war das Theater groß. Die einen machten sich einen merkwürdigen Spaß daraus, beim Nachbarn das Schlafzimmer zu filmen, die anderen brachten gleich den ganzen Flugverkehr in Gefahr. Inzwischen ist das so weit gesetzlich reguliert, dass es faktisch keinen Spaß mehr macht, seine Kamera in die Luft zu schicken. Aber was lernen wir daraus? Kaum gibt man erwachsenen Menschen ein solches Spielzeug in die Hand, fällt ihnen dazu nichts anderes als Blödsinn ein. Was aber passiert, wenn man Militärs solche Drohnen in die Hand gibt? Die machen sie gleich so groß, dass sie Raketen transportieren können. Und verändern die gesamte Kriegsführung. Musste man früher eine Armee auf eine Stadt marschieren lassen, um einen gegnerischen Herrscher außer Gefecht zu setzen, setzt heute kein Soldat mehr seinen Fuß in die fremde Stadt. Stattdessen fliegen außer Bodensichtweite unbemannte Flugkörper über dem Gebiet, spähen es aus und bombardieren „ganz gezielt“ kleine Areale, gelenkt von Menschen, die in anderen Erdteilen an Monitoren sitzen und diese Drohnen per Joystick bedienen.

Was nach so etwas wie Humanisierung des Krieges klingt, wenn es so etwas überhaupt gibt, ist grausamer als alles bisher Dagewesene. War in früheren Zeiten klar, dass die Zivilbevölkerung einem besonderen Schutz unterliegt, wie es auch in den Genfer Konventionen festgelegt ist, werden heute bewusst „Kollateralschäden“ in Kauf genommen. Darunter versteht man die Tötung von Zivilpersonen, um ein Angriffsziel auszulöschen. Da werden schon mal mehrere hundert tote Zivilisten in Kauf genommen, um einen Menschen zu töten, den der Gegner zum Terroristen erklärt hat. Und weil das in einem Kriegsgebiet, also zum Beispiel eine Stadt, nicht einmal, sondern ständig passiert, lebt die Zivilbevölkerung in einem permanenten Psychoterror, weil es keine Vorwarnung mehr gibt, sondern Bomben und Raketen „aus dem Nichts“ einschlagen. Früher hörte man das Rollen von Panzerketten auf dem Asphalt, das Dröhnen von Flugzeugmotoren am nächtlichen Himmel und konnte sich womöglich noch in Sicherheit bringen. Wenn heute ein Soldat irgendwo auf dieser Erde an seinem Monitor nach möglicher Sicht entscheidet und mit seinem Joystick den Auslöser betätigt, läuft niemand mehr davon. Dann gibt es Tote. Es ist derselbe Soldat, der nach der Arbeitsschicht nach Hause geht, um dort mit den Kindern zu spielen und am Abend die Nachbarn zum Grillabend einzuladen. An die Öffentlichkeit soll nach Möglichkeit nichts von diesen neuen Praktiken dringen. Offiziell, um dem Gegner kein Propaganda-Material in die Hände zu spielen, inoffiziell erspart man sich Diskussionen über völkerrechtlich nicht abgedeckte Einsätze.

Bojan Vuletić, einer der beiden Künstlerischen Leiter des Asphalt-Festivals und Komponist, will nicht schweigen. Er schreibt ein einstündiges Werk mit dem Titel All Quiet on the War Front – also in etwa alles ruhig an der Kriegsfront. Kammermusik für fünf Musiker und einen Sprecher, die durch gesprochene Zitate zur „politischen Musik“ wird. Uraufgeführt wird das Stück im Rahmen des Asphalt-Festivals auf dem neugestalteten Gustav-Gründgens-Platz vor dem sanierten Schauspielhaus in Düsseldorf. Das Schauspielhaus hat – unabhängig vom Festival – Teile einer alten Militärfrachtmaschine aufstellen lassen, die im Umfeld dieser Musik einen ganz besonderen Anachronismus entwickeln. Dazwischen ist Platz für ein Zeltdach, unter dem die Musiker Unterschlupf finden. Davor ist eine großzügige Tribüne aufgebaut, die an diesem Abend zwar nicht vollständig gefüllt, aber gut besucht ist.

Foto © Ralf Puder

Für die Aufführung hat Vuletić wie immer fantastische Musiker verpflichten können. Jeder einzelne von ihnen ist als gefragter Solist unterwegs. Dass sie an diesem Abend zusammenfinden, darf man als besonderen Glücksfall betrachten. Die expressive Geige spielt Egor Grechishnikov, Zweiter Konzertmeister der Düsseldorfer Symphoniker, mit Hütchen und zerfranster Jeans als solcher nicht unmittelbar zu erkennen. Neben ihm nimmt Cellistin und Komponistin Mariel Roberts Platz, die nicht nur akrobatische Aufgaben am Cello erfüllen muss, sondern auch Teile der elektronischen Aufführung übernimmt. Dahinter sitzt Alina Bercu an einem Konzertflügel und bearbeitet ihn mit eindrucksvoller Leidenschaft. Auf der anderen Seite hat Klarinettist Christoph Schneider hinter dem Ausnahme-Talent Pablo Giw an der Trompete, der ebenfalls elektronische Aufgaben übernimmt, seinen Platz gefunden. In der Mitte sitzt Vuletić selbst, der die musikalische Leitung und Sprecherfunktion übernimmt. Allein der Aufmarsch der Ausnahme-Musiker sorgt schon für Vorfreude. Dass das Licht und die gezeigten Projektionen auf den Zelthintergrund ihre Wirkung im hellen Abendlicht der Sommerzeit verlieren, ist bedauerlich, aber das Konzert hält eine Dramaturgie biblischen Ausmaßes vor, von der zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt. Vorerst fühlen sich die Zuschauer in der lauen Abendluft denkbar wohl und können sich ganz auf das Konzert einlassen.

Vuletićs Körper ist bis zur letzten Faser angespannt, sein Gesicht versteinert. Die Konzentration ist übermächtig. Er ist kein ausgebildeter Sprecher, sein Ding ist es, Instrumenten die ungewöhnlichsten Klänge abzugewinnen. Aber er meistert die selbstgestellte Aufgabe bravourös. Schade, dass es der Technik nicht gelingt, die Balance zwischen Musik und gesprochenem Wort durchgängig aufrechtzuerhalten. Und so geht das eine oder andere Zitat in der Originalsprache ein wenig unter. Aber letztlich ist das kein großer Verlust, weil der Gesamtzusammenhang deutlich wird. Die Musik wie die Virtuosität der Musiker gleichen alles wieder aus. Es gibt Erstaunliches, was die Klänge angeht. Ob es die ungewöhnlichen Laute an der Trompete von Atemstößen und gesprochenen Klängen sind, der Klagegesang von Geige und Cello, der nachdenkliche Klang der Klarinette oder die expressiven Ausbrüche am Klavier, die den zarten Einleitungen der Abschnitte folgen, fesseln den Hörer. Nachdem Vuletić von den „Erfolgen“ der Drohnen berichtet hat, gleitet ein Flugdrache in großer Höhe über den Platz und entschwindet allmählich im Abendhimmel. Das ist selbstverständlich genauso wenig vorgesehen wie der Abschluss des Abends, aber ausgesprochen wirkungsvoll. Das Geschehen auf der Bühne ist reichhaltig, lässt von folkloristischen Klängen über jazzig anmutende Zwischenspiele bis zu Situationsschilderungen, wenn etwa die Trompete fliegende Drohnen simuliert, viel Emotion und Handlungsmomente zu.

Und während die Musiker sich vor dem Publikum verbeugen, das sich schlagartig von den Plätzen auf der Tribüne erhoben hat, um heftig zu applaudieren, fegt ein sturmartiger Wind die Blätter von den Notenpulten, dräuen schwarze Wolken am Himmel – die Gefahr kommt von irgendwo da oben … Das hätte kein Dramaturg dieser Welt besser hinkriegen können. Das Asphalt-Festival 2021 kann seiner Bilanz einen überwältigenden Abend mehr hinzufügen.

Michael S. Zerban