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Oratorium häppchenweise

Vier oratorische Passionen werden dem Komponisten Johann Sebastian Bach zugeschrieben. Benannt nach den vier Evangelisten des Neuen Testaments, die nach christlichem Glauben den Leidensweg Jesu Christi aufgezeichnet haben: Matthäus, Markus, Johannes und Lukas. Das klingt großartiger, als es ist. Als gesichert gilt, dass Bach zwei Passionen komponiert hat, nämlich die Matthäus- und die Johannes-Passion, letztere in jüngerer Zeit immer häufiger wegen ihres möglichen Antisemitismus in der Kritik. Von der Lukas-Passion weiß man inzwischen, dass sie nicht von Bach stammt. Und die Musik der Markus-Passion ist verschollen.

Nikolaus Matthes – Foto © Bettina Brotbek

Christian Friedrich Henrici wurde 1700 in Stolpen bei Dresden geboren. Ab 1719 studierte er Jura in Wittenberg und Leipzig. Aber die Karriere wollte nicht so richtig starten. Als Hauslehrer blieb sein Einkommen überschaubar, und so begann er 1721 seine Laufbahn als Dichter in Leipzig. Zunächst verfasste er erotische Gedichte und Dramen. Später wurde er der wichtigste Textdichter für Johann Sebastian Bach. Die beiden lernten sich wohl eher zufällig kennen. Da nannte sich Henrici bereits Picander. Ab 1723 nahm die Zusammenarbeit der beiden Fahrt auf. So vertonte Bach unter anderem etliche Texte aus dem fünfbändigen Werk Ernst-scherzhaffte und satyrische Gedichte von Picander. Dort findet sich auch das Libretto für die Markus-Passion und blieb somit erhalten. In späteren Jahren absolvierte Picander übrigens noch eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn, ehe er 1764 in Leipzig starb.

Bekannt ist, dass die Markus-Passion am 23. März 1731, einem Karfreitag, in Leipzig uraufgeführt und in einer Spätfassung 1744 aufgeführt wurde. Ein Teil der Musik konnte mehr oder minder verlässlich rekonstruiert werden, etliche Arien und alle Rezitative bleiben verschollen. Die Frage, ob man nun um ein einzelnes Werk viel Aufhebens machen muss, bleibt unbeantwortet. Feststeht, dass bis heute erhebliche Energie aufgewendet wird, um die Markus-Passion aufzuführen. Zwei Ansätze standen dabei bislang im Vordergrund. Während die einen alles daransetzen, eine plausible Wiederherstellung oder wenigstens eine brauchbare Stilkopie zu finden, haben andere den bewussten Kontrast mit Elementen neuer Musik gesucht.

Nikolaus Matthes ging einen ganz anderen Weg. 1981 in Berlin geboren, wuchs er in Lüneburg auf. Seit seiner Kindheit setzt er sich mit der Musik Bachs auseinander. Nach dem Abitur wurde er Theaterregisseur und Pädagoge, ehe er ein Studium der Musiktheorie und Komposition in Basel absolvierte. Da hatte er bereits für Daniel Barenboim und Konrad Junghänel gearbeitet und ein Filmstudium in London absolviert. Seit 2016 arbeitet Matthes als freischaffender Dirigent und Komponist. Seine Spezialität ist die Verbindung alter Stile mit zeitgenössischen Elementen. Anstatt sich in Bibliotheken und Archiven zu vergraben, um womöglich alte Noten zu finden, beschloss er im April 2019, die Markus-Passion selbst zu vertonen. Dabei orientierte er sich an der barocken Stilistik. Ein Jahr später beendete er sein Werk. Aber es sollte noch drei Jahre dauern, bis seine Passion am 23. März 2023 in der Kirche St. Peter in Zürich uraufgeführt wurde. Es folgten drei weitere Konzerte. Unter anderem drei Tage später in Luzern, wo das Konzert aufgezeichnet wurde. Die Filmproduktion lag in den Händen von Johannes Wallbrecher, Chef des Labels Resonando, das die Aufnahme vor genau einem Jahr in einer „Deluxe-Edition“ veröffentlicht hat.

Die deutsche Erstaufführung findet am 7. und 8. März kommenden Jahres unter Leitung von Stefan Kordes mit dem Göttinger Barockorchester und der Kantorei St. Jacobi statt, in zwei Jahren, so ist es heute schon geplant, wird das Werk beim Bachfest Leipzig aufgeführt werden. Matthes reicht das nicht. Um für eine weitere Verbreitung seiner Arbeit zu sorgen, hat er sich etwas Besonderes einfallen lassen. Am 21. März, dem 340. Geburtstag von Bach, hat auf einer Videoplattform eine Serie begonnen. Angereichert mit Bildern aus der Markusstadt Venedig und Kommentaren von Matthes wird die Markus-Passion in der „Luzerner Fassung“ in zwölf Episoden in monatlichen Abständen gezeigt. Einen guten Einstieg findet man auf der eigens angelegten, überaus informativen Netzseite, auf der auch die Kanäle aufgelistet sind, auf denen man sich das Stück anhören kann – wie zum Beispiel hier. An der doch eher einfachen Gestaltung der Netzseite im Karfreitag-Lila soll man sich dabei nicht stören.

Es ist durchaus eindrucksvoll, mit welchem Aufwand Matthes die Verbreitung seines Werks betreibt – dabei kann niemand sagen, ob sich das Engagement auszahlt. Sicher aber lohnt es sich für ein geneigtes Publikum, den Karfreitag in diesem Jahr statt in einer zugigen Kirche mal vor den heimischen Lautsprechern zu verbringen, um zu erfahren, wie eine fast 300 Jahre alte Markus-Passion aus heutiger Sicht klingt.

Michael S. Zerban