O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Lustvolles Spiel

Foto © Sophia Ebner

Mittlerweile, und die Geschichte lehrt uns das, erfüllt einen die Ankündigung von Medien und Politikern, es brächen „neue Zeiten“ an, mit größtem Misstrauen, wenn nicht gleich mit noch größerem Unbehagen. Reflektiert man die letzten 50 Jahre, in denen wir keine „Zeitenwende“ brauchten, darf man von Glück sprechen. Nein, es war nicht alles Gold. Aber die Dinge entwickelten sich langsam zum Besseren. Peu à peu, Schritt für Schritt. Wir verlernten, was Krieg bedeutet, wir lernten, Toleranz zu üben gegenüber Andersdenkenden, Andersfühlenden, Andersgläubigen. Wir hörten nach und nach auf, Menschen auszugrenzen, die „anders“ waren als wir. Ach ja, und die Sache mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Haben wir je größere Fortschritte gemacht als im vergangenen Jahrhundert? Nein, es war und ist nicht alles Gold. Aber so ist das, wenn sich eine Gesellschaft gesund entwickelt. Es braucht Zeit.

Wie heißt es so schön? Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Nur sind es in Deutschland keine Tiere, die sich die Hufe auf einer gesund gewachsenen Eisschicht brechen, sondern neuerdings ziehen Minderheitengruppen mit Spitzhacken los, um den festen Zusammenhalt der Gesellschaft in Stücke zu hauen. Und sie haben scheinbar Erfolg. Sie nennen sich aufgewacht, unterwandern den gesellschaftlichen Konsens, klittern die Geschichte und versuchen, die Sprache zu ändern. Angeblich, um irgendetwas zu verbessern. Dabei reißen sie zugeschüttet geglaubte Gräben auf, um Konflikte neu zu schüren, die längst beigelegt waren. Die Bilanzen der ach so Aufgewachten sind bislang erschütternd. Statt partnerschaftlicher Gleichberechtigung sehen Frauen und Männer sich zunehmend als Feindbilder, die Homophobie steigt rasant an und selbsternannte Eliten sorgen für heftigen Widerstand selbst der Stammtische gegen ihre Kunstsprache, die nicht einmal in der Lage ist, zu einer Konsistenz zu finden.

Plötzlich leben wir in einer Zeit, in der die Ideologie den Diskurs unterdrückt. Auf ihren Fahnen steht „Zeitenwende“, die sie mit scheinbar hehren Zielen ausschmückt und – wie es sich gehört – radikal verfolgt. Ihre größte Angst ist die vor dem Vergleich mit den Zeiten von 1929 bis 1933, da werden sie bissig, die Aufgewachten. Sie sehen sich ja nicht als die geistigen Brandstifter, die immer mehr Menschen einer rechtsextremistischen Gesinnung zutreiben, sondern „kämpfen“ für eine „bessere Welt“. Eben.

Foto © Sophia Ebner

Was in diesen Zeiten untergeht, ist die Lust. Die Lust am Leben, die Lust am anderen Menschen, egal, wer er ist. Der Blitzstrahl, der in die Seele fährt, wenn man einem anderen Menschen in die Augen blickt, das unverhohlene Verlangen nach dem, der in einem mehr auslöst als das bloße, ohnehin beglückende Gefühl der Seelenverwandtschaft. Choreografin Silke Z. geht sogar so weit, nach der Lust als Utopie zu fragen, also nach etwas, was nicht existiert, was erst in der Zukunft liegt, womöglich uneinlösbar ist. Gemeinsam mit dem litauischen Low Air Vilnius City Dance Theatre hat ihre Kompagnie Resistdance das einstündige Stück Lustopia entwickelt, das am 23. Oktober dieses Jahres in den Kölner Ehrenfeldstudios zur Uraufführung kam. Silke Z. zur Seite standen die Choreografen Laurynas Žakevičius und Airida Gudaitė. Gemeinsam erweiterten sie das eigentliche Arbeitsfeld Z.‘s, das sich mit dem Tanz verschiedener Generationen befasst, um gesellschaftliche Positionen, wenn man es so nennen will. Unter den sechs Tänzern – Caroline Simon, Hanna Held, David Winking, Grėtė Vosyliūtė, Dmitrijus Andrušanecas und Darius Stankevičius – findet sich die wohlausgebildete Tänzerin und Tanzpädagogin in jungen Jahren wie die Tänzerin in der Mitte des Lebens, der ältere Herr wie der Kraftprotz oder der Mann mit Down-Syndrom.

Zu beantworten galt es, ob Lust „an bestimmte Merkmale wie Alter, Geschlecht, Körper oder Behinderung gebunden“ sei. Ja, ob „Scham und Unsicherheiten, die durch Geschlechtszuschreibung, Alter oder Behinderung entstehen“, einer Lust-Utopie im Wege stünden. Um es vorwegzunehmen: Das Publikum interessiert sich für diese Fragen offenkundig wenig. Weder ergötzt es sich überbordend am jugendlich trainierten weiblichen Körper, noch geht ein Raunen angesichts eines ungewöhnlichen körperlichen Aussehens durch die Menge, wie man es von früheren Jahrmarktattraktionen kennt, wenn der „Elefantenmensch“ gezeigt wurde. Die Lust trifft jeden und überall – eine Erkenntnis, die sich in der Gesellschaft längst durchgesetzt und damit alles Ungewohnte verloren hat.

Z. hat die Videoaufnahmen der Aufführung nicht, wie sonst offenbar üblich, in den Giftschrank geschlossen oder allenfalls einen Trailer daraus produziert, sondern zu einem wunderbaren Film geschnitten, der seit Anfang Dezember kostenfrei im Internet zur Verfügung steht. Eine kluge Entscheidung, die eine größere Reichweite und Aufmerksamkeit verspricht, als es bei einem Besuch der Ehrenfeldstudios möglich wäre.

Es lohnt sich, das Video am heimischen Monitor anzuschauen. Es ist eine der besten Aufführungen, die in der letzten Zeit im zeitgenössischen Tanz zu sehen waren. So viele sind es ja nicht mehr. Neben einer ausgeklügelten Choreografie, in der sich Lust metaphernhaft in jeder Facette entfalten darf, steht die ungewöhnliche Bühne von Garlef Kessler, die er in ein gerade noch erträgliches Halbdunkel taucht. Liam Giles kleidet den Abend in ein unaufdringliches musikalisches Gewand, das nur durch die fantasievollen Kostüme von Melina Jusczyk übertroffen wird. Der Film ist sorgsam geschnitten, es handelt sich also nicht um die einperspektivische Aufnahme einer Bühnenaufführung. Und so gelingt es, die Atmosphäre wie die Intention der Choreografen wiederzugeben. Wie heißt es so schön? Wer den zeitgenössischen Tanz mag, wird diesen Film lieben.

Michael S. Zerban