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Kino

Mehr Meditation als Tanz

Eigentlich ist sie Tänzerin und Choreografin, aber ihre nächste Leidenschaft zeigt schon ihre Netzseite. Karen Bößer liebt den Film – umso mehr, je eher er sich mit dem Tanz beschäftigt. Jetzt hat die Düsseldorferin ihren zweiten Kinofilm vorgestellt. S3nse könnte man als meditative Wanderung verstehen. Nach einer Handlung sucht man vergebens, aber die Bilder halten einen gefangen.

S3nse ist eine künstlerische Reaktion auf das Leben in den gesellschaftlichen Nebelkammern, die sich allgegenwärtig ausbreiten. Demokratische Entscheidungen, völkerrechtliche Prinzipien und geopolitische Grenzen werden individuell ausgelegt und verlieren damit ihre Gültigkeit. Konsequenzen sind kaum einschätzbar“, beschreibt Tänzerin, Choreografin und Filmemacherin Karen Bößer die gegenwärtige Lage und damit die Ausgangssituation für ihr neues Werk. „Gesellschaftliche Minderheiten setzen dank sozialer Medien Themen und Stimmungen durch, grotesk aufgebläht, deren Diskussion das gros der Gesellschaft ablenkt und auf Nebenkriegsschauplätze führt. Es ist völlig unklar, welche Kräfte am Ende dominieren“, fährt sie fort und kommt damit zur Motivation, die sie angetrieben hat, nach ihrem ersten, inzwischen mehrfach international preisgekrönten Film D|S°Dance nun S3nse zu präsentieren.

Das Bambi-Filmstudio, 1965 erbaut und liebevoll restauriert, gehört zu den Düsseldorfer Filmkunstkinos. Seine Spezialität sind „Erstaufführungen, Premieren und Filmkunstperlen“, und damit ist es wunderbar geeignet, Bößers Film der Öffentlichkeit vorzustellen. Schon der Kinosaal ist ein Erlebnis. Die Fauteuils vor der Leinwand in einer Größe, die sich sonst heute niemand mehr aufzuhängen traute. Im Foyer gibt es an einer Bar Getränke, die mit in den Saal genommen werden dürfen. Und klar, dass es nicht lange dauert, bis das erste Scheppern von Kaffeetassen im Dunkeln zu hören ist. Da hat die Vorstellung vor zahlreich erschienenem Publikum allerdings schon begonnen.

Eine regnerische Nacht in der Großstadt. Blinkende Lichter in Pfützen. Der Zustand der Straßen lässt schnell erraten, dass es sich um Düsseldorf handelt. Ja, schon in den ersten Sekunden wird klar, dass der Film, wenn er außerhalb des Rheinlandes gezeigt werden wird, gewinnen wird. Denn unwillkürlich versucht der Düsseldorfer Zuschauer, immer wieder zu „erraten“, wo diese oder jene Sequenz von Susanne Diesner mit der Hauptkamera in teils epischen Bildern eingefangen wurde, wo Roman Reinert die Drohne über Hochhauskanten stürzen lässt oder wo sich die Tänzer gerade aufhalten, wenn beispielsweise Misael López im Reisholzer Hafen herumklettert.

López, in Chile geboren und studiert, lebt seit 1987 als Choreograf, Tanzpädagoge und Schauspiellehrer in Köln und Düsseldorf. Er übernimmt die Rolle des Wanderers. Er ist derjenige, der den Film vorantreibt, der zwischen Naturlandschaften und urbanen Eindrücken mäandert. Wenn er nicht gerade innehält, um mit seiner Armarbeit an dem Lösungsansatz arbeitet, den Bößer anbietet, den Versuch, eine neue Balance zu finden. Und damit ist auch schon das „Manko“ des Films aufgedeckt, zumindest für Menschen, die die Arbeit von Karen Bößer als Tänzerin besonders schätzen. Denn von ihr ist wenig zu sehen. Der Trost: Wenn sie auftritt, begeistert sie vor allem in ihrem Umgang mit ihrer Bluse. 2018 hat sie die Idee schon mal in Pieces of Manifesto mit einer Tüte gezeigt, sie aber jetzt aufregend weiterentwickelt. Dass die beiden sich in weiten Teilen des Films gegenseitig gefilmt haben, geht im Videoschnitt von Dirk Dietrich Hennig ohne Verlust unter.

Während in vielen Arbeiten Bößers der hämmernde Bass den Saal vibrieren lässt, hat sich Thomas Klein aka Sølyst hier mit seiner Musik angenehm zurückgehalten, um so den meditativen Charakter des Films zu unterstreichen. Das ist gelungen. Im ruhigen Blick auf fließendes Wasser im Sonnenuntergang geht der Film zu Ende. Der Kreis schließt sich, womöglich ist die Balance gefunden.

Das englische Wort sense meint sowohl das verstandesmäßige wie das sinnliche Erfassen. Und damit ist der Film  blendend betitelt, hält er doch die Waage zwischen Poesie und Bildern, die dem Heute entnommen sind. Es wird spannend sein zu sehen, wie die internationale Festivalgemeinde das Werk aufnehmen wird. Entgehen lassen sollte man sich ihn in keinem Fall, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt.

Michael S. Zerban