O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Irre im Theater

Angesichts des provokanten Titels Theater spielen heilt – Inszenieren in Psychiatrie und Psychotherapie ist es schon nützlich, eigentlich notwendig, dass Gerd Franz Triebenecker seinen umfangreichen Projektbericht über eine Zusammenarbeit des Kreisdiakonischen Werkes Stralsund, der forensischen Psychiatrie des Helios-Hanseklinikums  und Theaterleuten mit einem knappen historischen Rückblick beginnt. Ähnlich wie Harald J. Freyberger in einem kurzen Vorwort betont auch Triebenecker die historisch enge Beziehung zwischen therapeutischem Handeln und theatralen Aktionen, deren Intentionen sich in der Schnittmende zwischen Theater und Psychiatrie treffen. Triebeneckers Buch soll „ein Plädoyer sein für wildes, sinnenüberwältigenden Theater jenseits des Kunstbetriebes Theater“. Mit Warstatt sieht er in beiden Bereichen „distanzierte Geschwister“, die sich in der konkreten Lebenssituation der Projekte in „therapeutischen und sicherheitsbedingten Verhaltensweisen“ durchdringen. Triebenecker orientiert sich theaterhistorisch an Marquis de Sades Versuch, in der Klinik von Charenton nahe Paris in therapeutischer Absicht mit „Irren“ ein Theaterstück öffentlich aufzuführen.

Schon die Kapitelüberschriften verraten Grenzgänge: Therapie und Theater – Theater und Therapie – Theater als Risiko. In kurzen Rückblicken und mit Bezug auf eine Studie von Gerda Baumbach erinnert der Autor an die „vielen Gemeinsamkeiten zwischen Medizin und Theater“, weist auf die „marktschreierischen Vorläufer“ der Medizin und die „liederlichen älteren Brüder“ des Theaters hin, begreift „Heilen“ als Kommunikation, das sich ähnlich wie das Theater mit der Frage von Leben und Tod befasst –  überraschende, zum Teil spannende Zusammenhänge, die streiflichtähnlich darauf hinweisen, dass sich Gesundheit und Krankheit „kulturell und zeitgeschichtlich verändern“  und sich in ihrer Effektivität nicht zählbar „messen“ lassen. Im Umgang mit der Krise und dem Skandal sieht Triebenecker die „substantielle Gemeinsamkeit“ von Theater und Therapie. Während de Sade das Theater noch weitgehend als Methode zur Behandlung von Irren einsetzt, um „die Potentiale des Theaters“ zu nutzen, kommt es Triebenecker darauf an, dass das Theater den Ansatz als Therapie verlässt und an die Öffentlichkeit geht. Nur dann kann der Patient in Distanz zu sich selbst treten und sein „festgefahrenes Ich in Bewegung“ kommen.

Der Autor belegt viele Einschätzungen und Analysen mit Originalzitaten aus Patienten-Interviews. Sie zeigen in vielen Details die „heilende Wirkung“ des Theaterspiels, sie bestätigen die sehr vorsichtige und kritische Nutzung der Interviews durch den Autor, der dem Buch neun Interviews in längeren Auszügen hinzufügt. Dadurch gibt er seinen Beschreibungen und Interpretationen eine Authentizität, die in ihrer Direktheit, Genauigkeit und Glaubwürdigkeit angenehm überraschen. Wenn dann einer der Teilnehmer respektive Patienten nach dem Ziel befragt antwortet, „etwas stolz auf mich selbst und von der Sache her auch auf den Gruppenzusammenhalt“ zu sein, ist das schon ein bemerkenswerter „Erfolg“.

Triebenecker bedient sich einer genauen, unprätentiösen, gut lesbaren Sprache, die oft durch ihre Genauigkeit und Originalität besticht. So spricht er vom „sinnenüberwältigen Theater“, interpretiert mit Volker Reinhardt die Romane des de Sade als „Experimentieranlage des Bösen“, spricht von den „marktschreierischen Vorläufern“ der Medizin, sieht für Autor und Regisseur im Patienten den „Arbeitsmittelpunkt“ und nennt die Betrachtung der Kranken im Hospital von Bedlam ein „Sonntagsvergnügen der Bourgeoise der Rive Gauche“, unverblümt und unmissverständlich. Er betont, dass der Kranke, indem er nach eigenem Entschluss auf die Bühne tritt, zu sich selbst in ästhetische Distanz tritt und damit zum Akteur wird, der aus eigenem Entschluss den Schritt „aus der Therapie zum Theater in der Therapie“ tut. In der historischen Entwicklung des Theaterspielens als Heilungsansatz sieht Triebenecker immer wieder eine Gratwanderung „zwischen der skandalsuchenden Zurschaustellung und einem therapeutischen Ansatz“. Er betont die eingeordnete Stellung von Theater in der Therapie. „Bevor es gefällt, muss es nutzen.“ Und bei fast allen Interpretationen und Schlussfolgerungen unterstreicht und praktiziert er, dass „die Grenzen selbstverständlich fließend sind“ und es immer wieder zu prozesshaften Widersprüchen kommen kann. Diese Spannung beleuchtet der Verfasser aus immer neuen Blickwinkeln und mit zahlreichen Interviewausschnitten. Hinsichtlich möglicher „Heilungserfolge“ argumentiert Triebenecker zurückhaltend und kontrolliert. Theaterproben betrachtet er als „kommunikatives Ringen“. Theater öffentlich zu spielen ist das,  „was Theater so fruchtbar für Therapie macht“, wenn sich die Spieler selbst in Frage stellen. Patienten, die gleichzeitig Schauspieler werden, erfahren sich selbst als „eigenes Spielmaterial“. Hinzu kommt, dass bei öffentlichen Aufführungen der Patient im Spiel mit dem Publikum in „ästhetischer Distanz“ gleichzeitig einen Schutzraum empfindet. „Wer sich so selbst erfährt, erfährt anderes an sich.“ Auch diese Erfahrung kann sich krisenhaft entwickeln, wenn der Patient sich mit seinen Verletzungen als „eingefroren“ wahrnimmt und im Theaterspielen die Grenzen zwischen dem Leben und der Kunst verschwimmen.

Triebeneckers Buch ist keine leichte Kost, keine Unterhaltung. Sie setzt sowohl Kenntnisse über den Theaterbetrieb als auch aus der Psychiatrie voraus. Doch gelingt es dem Autor, schwierige analytische Zusammenhänge ebenso verständlich darzustellen wie konkret-realistische Problemkonstellationen bei Patienten nachvollziehbar zu machen. Zwischen diesen beiden Polen ist eine äußerst spannende, aufklärerische und weiterführende Arbeit  entstanden.

Auch wenn Triebenecker das Theater in seinem Schlusskapitel als „Risiko“ bezeichnet, bleibt seine Prognose für den Patienten „Theater“ positiv: „Mag die Kunstform Theater in seinen Zentren der letzten beiden Jahrhunderte – den Stadttheatern – kriseln, so ist es in allen anderen Bereichen stärker, vielfältiger und vitaler geworden…“. Also bitte: Vorhang auf!

Horst Dichanz