O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Eine griechische Tragödie

Wenn heute in den Medien über eine Operndiva, also eine „Göttin der Oper“, gesprochen wird, dann fällt meist der Name Anna Netrebko. Neben ihren herausragenden Qualitäten als Sängerin sorgten vor allem ihr Sexappeal, ihre offene Art und ihr Geschick bei der Selbstvermarktung dafür, dass sie zum Liebling der Medien und zu einer Berühmtheit der Klassikszene wurde. Doch Göttinnen können auch tief fallen, und Anna Netrebkos halbherzige Distanzierung von Putin zu Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine machten aus der einzigen Diva eine „Persona non grata“ an den großen Opernhäusern. Doch Netrebko ist natürlich nicht die erste und einzige Diva am Opernhimmel gewesen. Eine gewisse Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulos, deren Geburtsname heute nur Experten bekannt ist, sollte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Dimensionen in der Opernwelt neu definieren. Die Rede ist von Maria Callas, der Operndiva des 20. Jahrhunderts schlechthin. Dieser Ausnahmesängerin hat die Kulturhistorikerin und Schriftstellerin Eva Gesine Baur eine neue Biografie gewidmet, im Jubiläumsjahr der Callas, die am 2. Dezember dieses Jahres ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte.

Man könnte meinen, noch eine Biografie über die Callas, die Geschichte ist doch hinlänglich bekannt und auserzählt. Selbst Eva Gesine Baur bekennt in ihrem Vorwort zu der Biografie mit dem passenden Übertitel Spurensuche: „Es schien keine Lücke erkennbar, die noch zu schließen wäre, abgesehen von jenen, die allein Spezialisten kennen. So hat sich der Internationale Maria-Callas-Club von September 1990 an in nahezu hundert Ausgaben von je zweiundsiebzig Seiten bemüht, Dokumente, Zeitzeugnisse sowie sämtliche Interviews zu publizieren und auf Glaubwürdigkeit zu prüfen, was nicht immer zweifelsfrei gelingen kann. Die archäologische Arbeit, die eigentliche Callas auszugraben, wird erschwert durch das, wovon sie in wachsenden Schichten überlagert wird: Aussagen von Menschen, die sie kannten, abgegeben nach ihrem Tod. Kollegen, die zu Lebzeiten von Maria Callas fast nichts über sie gesagt hatten, packten aus, nahe, vor allem aber entfernte Verwandte, vorübergehende Freunde, Kommilitonen, Zufallsbekannte, Regisseure, Dirigenten, Klavierbegleiter, Bühnenbildner, Schallplattenproduzenten, Lehrerinnen, Sänger, wie üblich auch Hauspersonal.“

Warum dann diesem überreich vorhanden Material eine neue Biografie hinzufügen, nur weil der 100. Geburtstag vor der Tür steht? Baur gibt selbst die Antwort: „Sicher ist bestenfalls, dass die Neugier für Maria Callas als Frau das Interesse an der Künstlerin zudeckt. Die oft als Sensationen angekündigten Auskünfte von Weggefährten, die sie, wie schon der Boulevard-Journalismus in ihren letzten beiden Lebensjahrzehnten, in die Niederungen des Allgemeinmenschlichen herabholen, verdrängen jene Frage, die am wichtigsten bleibt: Was hat sie einzigartig werden lassen? Warum ist sie die einzige Sängerpersönlichkeit der Vergangenheit, die heute keineswegs nur in der Musik, sondern auch im Theater, im Film, in der Bildenden Kunst und sogar den Klatschkolumnen gegenwärtig ist? Wenngleich über die Stimme, das Äußere, das Verhalten derartige Uneinigkeit besteht, sind sich alle darin einig, dass sie unnachahmbar blieb. Was die epochale Leistung von Maria Callas war, ist heute aber kaum jemandem bewusst.“

Und hier setzt die über 500 Seiten starke Biografie von Baur an, den Menschen Maria von der Diva Callas abzugrenzen. Herausgekommen ist ein Psychogramm einer gespaltenen Persönlichkeit. Einer krankhaft ehrgeizigen Sängerin, egomanisch und egozentrisch, mit psychopathologischen Zügen, immer nach Ruhm und Anerkennung gierend. Und einer einfachen, schlichten Frau, wenig gebildet, die sich nach Liebe verzehrt, aber eigentlich nicht lebensfähig ist und am Ende völlig vereinsamt. In dreißig chronologisch aufeinander aufbauenden Kapiteln lässt Baur nicht nur die Karriere der Callas wieder lebendig werden, sie erzählt vor allem die traurige Lebensgeschichte der Maria, und das ist, um es vorwegzunehmen, der besondere Verdienst dieser Biografie, den Menschen Maria hinter der Diva Callas mit all seinen Schwächen zu beschreiben. Letztendlich wird die Callas vom Sockel der Diva gestoßen, denn diese Biografie stimmt am Ende den Leser traurig und nachdenklich.

Wer war diese Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulos wirklich? Sie wird am 2. Dezember 1923 im New Yorker Washington Heights als Tochter der griechischen Einwanderer George Kalogeropoulos und Evangelina Dimitriadis geboren. Der Vater ändert 1929 den Namen in Callas. Im griechischen Viertel von Manhattan eröffnet George kurz darauf eine Apotheke. Callas besucht die Schule in Brooklyn und beginnt im Alter von acht Jahren ihre erste Gesangsausbildung. 1936 zieht sie, nach der Scheidung der Eltern, mit ihrer Mutter nach Griechenland. In Athen absolviert sie ab 1938 ein Gesangsstudium am Konservatorium. Marias Lehrerin ist die berühmte Koloratursopranistin Elvira de Hidalgo, die ihrer neuen Schülerin gegenüber anfänglich sehr skeptisch ist. Aber Maria singt, zwar noch unkontrolliert, aber voller Dramatik. Und sie erweist sich als ausgesprochen fleißig und ernsthaft. Folgerichtig erhält sie schon ein Jahr später ihre ersten Rollen an der Athener Oper. Mit nur 15 Jahren vollzieht sie ihr Gesangsdebüt in einer Aufführung der Cavalleria Rusticana am Athener Opernhaus. Infolge des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs verzögern sich die weiteren künstlerischen Engagements der Sängerin. Es folgen knapp zehn Jahre intensiven Rollenstudiums und gewissenhafter Ausbildung, bis Maria 1947 in Italien an der Arena di Verona engagiert wird. Der Dirigent der Aufführung, Tullio Serafin, wird auf ihr außergewöhnliches Talent aufmerksam, während sie mit der Titelrolle in La Gioconda selbst noch nicht beeindrucken kann. Serafin wird einer der großen Förderer der jungen Callas.

Im selben Jahr hat sie ihren Auftritt an der Mailänder Scala. 1949 heiratet sie den erfolgreichen, 27 Jahre älteren Unternehmer Giovanni Battista Meneghini, den sie in Verona kennengelernt hat und der fortan ihre Karriere als Sängerin unterstützt und organisiert. Auch nimmt sie die italienische Staatsbürgerschaft an. In den folgenden Jahren wird ihre Stimme immer besser, werden ihre Auftritte immer dramatischer und packender, bis sie sich bei den Florentiner Mai-Festspielen und im Dezember 1951 an der Mailänder Scala endgültig durchsetzen kann. Jetzt reißen sich die großen Bühnen der Welt förmlich um sie, sie ist eine Diva geworden.

Die 1950-er Jahre sind das Jahrzehnt der Callas. An der Scala ist sie jetzt die Hauptattraktion. Sie nimmt eine Reihe von Schallplatten auf und singt überall auf der Welt: Die tragischen Heldinnen Verdis und Puccinis werden zu ihren Markenzeichen. Doch zwei Rollen sollen ihr Leben und ihre Karriere prägen und sie untrennbar mit dem Namen Callas verbinden: die Priesterinnen Norma und Medea in den gleichnamigen Opern von Vincenzo Bellini und Luigi Cherubini. Insbesondere mit der Rolle der Medea identifizierte sich Callas wie mit keiner anderen. Sie sang und spielte die Medea nicht, sie war Medea. Regisseur Franco Zeffirelli sprach nach einer Vorstellung der Callas als Medea an der Mailänder Scala von einer neuen Zeitrechnung. „Die Welt der Oper hat sich verändert. Es gibt nun so etwas wie eine neue Zeitzählung: v. C. und n. C. – vor Callas und nach Callas.“ Sie schafft es, ein Repertoire wiederzubeleben, das fast in Vergessenheit geraten war. Den Opern von Donizetti, Bellini und Rossini kann sie dank ihrer enorm beweglichen Stimme und ihrer dramatischen Ausdruckskraft wieder Leben einhauchen.

Durch zahlreiche Konzerte an den bedeutendsten Häusern der Welt entwickelt sich Callas in den folgenden Jahren zu einem der begehrtesten Soprane der Welt. 1954 tritt sie in der Rolle der Norma erstmals in den USA auf. Ihr Debüt an der Metropolitan Oper in New York feiert sie 1956. Ihr weit gefächertes Repertoire und die dramatische Dichte ihrer Rollengestaltung machen sie weltberühmt. Ihre Stimme lebt vor allem vom dramatischen Ausdruck. 1957 lernt sie den griechischen Reeder Aristoteles Onassis kennen – ein Skandal, heißt es damals, denn beide sind noch verheiratet und zeigen sich trotzdem ungeniert gemeinsam in aller Öffentlichkeit. Ab jetzt beherrscht sie eher die Klatschspalten als die Feuilletons. Sie sei hysterisch, egozentrisch, unberechenbar. Das ist in etwa das Bild, das in der Presse von Callas gezeichnet wurde. So wurde sie zu einer Diva stilisiert, die man auch hassen durfte. Es gibt einen Schnappschuss, der sie mit gefletschten Zähnen zeigt. Das Bild geht um die Welt und formt die öffentliche Meinung. Callas ist keine normale Frau, sondern eine gefährliche Tigerin. Zum großen Skandal weitet sich eine abgesagte Vorstellung 1958 in Rom aus. Sie soll vor glanzvollem Publikum die Saison eröffnen. Alles, was Rang und Namen hat, ist präsent, einschließlich des italienischen Staatspräsidenten. Maria Callas aber ist erkältet, will eigentlich ganz absagen, möchte aber auch das Publikum nicht enttäuschen. Mitten in der Vorführung muss sie dann doch abbrechen. In der Presse wird sie dafür diffamiert. „Das sei typisch für diese Diva“ hieß es damals. Auch als Jahre später ihre Liaison mit Onassis zerbrach, weidet sich die Öffentlichkeit noch an ihrem Schicksal, obwohl sie sich lange von der Bühne zurückgezogen hat.

Im Jahr 1971 wird ihre Ehe mit Meneghini aufgelöst. Die Diva beweist indes auch ein beachtliches schauspielerisches Können, als sie 1969 in dem Film Medea in der Regie von Pier Paolo Pasolini auftritt. Zu ihren letzten Konzerten tritt Callas nochmals 1974 auf die Bühne. Am 16. September 1977 stirbt Maria Callas im Alter von nur 53 Jahren in Paris vermutlich an den Folgen eines Herzinfarktes.

Maria Callas sprengte als Sängerin Konventionen und triumphierte vor allem in tragischen Rollen. Dabei verband sie eine fast unheimliche technische Perfektion mit einer Intensität des Ausdrucks, die betroffen machte. Doch die Risse und Widersprüche, die sie in ihren Figuren spürbar machte, prägten auch ihr Leben. Eva Gesine Baur schildert den lebenslangen Konflikt mit der Mutter, ihren Hunger nach Liebe und Anerkennung, ihre Beziehungsunfähigkeit, ihren von unbedingtem Willen, ja, schon krankhaftem Ehrgeiz gezeichneten Aufstieg und die Jahre ihres größten Ruhms. Sie erzählt von den Skandalen, die sie verfolgten, und den Männern in ihrem Leben. Keine wurde auf der Bühne so wie sie umjubelt, keine wie sie wurde auf der Bühne so niedergemacht. Keine ihrer „Konkurrentinnen“ ihrer Zeit, wie Renata Tebaldi, Joan Sutherland, Elisabeth Schwarzkopf oder die junge Montserrat Caballé, haben so polarisiert und hysterische Reaktionen provoziert wie die Callas. Auch ihre Stimme spaltet bis heute Fans und Experten. Schön im klassischen Sinne war sie nie, dafür aber dramatisch und ausdrucksstark wie keine zuvor und kaum eine nach ihr.

Ihre glücklose Ehe mit Meneghini, ihre tragische Liebe zu Onassis, ihre Schwärmerei für Luchino Visconti und die Leidenschaft für Pier Paolo Pasolini, die Dramen auf der Bühne wurden auch zum Drama ihres Lebens und waren daher von der tragischen Kunst nicht zu trennen. Sie war eine „Diva assoluta“, die am Ende einsam und verlassen war, und doch bis heute unvergessen ist. Baur schreibt diese Biografie spannend wie ein Roman. Die ersten zwei Kapitel kommen noch etwas zäh daher, doch dann nimmt die Geschichte Fahrt auf, und man taucht ein in das Leben einer ungewöhnlichen Frau und einer Ausnahmekünstlerin. Baur trennt immer wieder zwischen „Maria“ und der „Callas“ und legt die Lebensgeschichte als ein verstörendes Psychogramm an. Sie tappt nicht in die Falle, die Callas als Boulevard-Objekt zu degradieren, sondern konzentriert sich auf die Fakten, was die über 50 Seiten umfangreichen Anmerkungen und Erläuterungen sowie das Quellenverzeichnis am Schluss der Biografie auch belegen. Herausgekommen ist eine faszinierende und überaus lesenswerte Biografie über Die Stimme der Leidenschaft, so der Untertitel dieser Biografie. Zudem ist sie auch Zeitzeugnis großer geschichtlicher Ereignisse, die im Kontext zum Leben der Callas Eingang finden, wie das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Ermordung von John F. Kennedy, die ersten Auftritte der Beatles, der Militärputsch in Griechenland und vieles andere mehr. Dieses Buch ist nicht nur für Opernliebhaber oder Verehrer der Callas ein Muss, man kann es auch ohne große Vorkenntnisse lesen und genießen. Wenn man dann noch die Stimme der Callas im Hintergrund hört, dann versteht man noch besser, was Eva Gesine Baur eindrucksvoll niedergeschrieben hat.

Andreas H. Hölscher