O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Gruftmuggen und Brautmütter

Silke Aichhorn ist Harfenistin. Das ist an sich nichts Besonderes. In jedem größeren Orchester gibt es eine Harfe, die meist im Hintergrund spielt, selten mal größere Soloeinätze hat. Auch das Repertoire für die Harfe als Soloinstrument ist im Vergleich zu anderen Instrumenten eher übersichtlich. Dass die Harfe aber nicht nur Profession, sondern auch Passion sein kann, das beweist Aichhorn seit über zwei Jahrzehnten als renommierte Solo-Harfenistin. Wer denkt, eine Harfenistin ist eine verträumte Zupferin an einem Märcheninstrument, die engelsgleich auf einer Wolke schwebend mit perlenden Tonreihen den Zuhörer verzaubert, der reduziert sie auf ein stereotypisches Klischee und hat Aichhorn noch nicht kennengelernt. Die Frau steht mit beiden Füßen nicht nur auf den sieben Pedalen ihrer 40-kg-Harfe, sondern ist fest geerdet. Die Mutter zweier Kinder ist eine Powerfrau, die sich um alles selbst kümmert. Sie arrangiert und vertreibt viele Kompositionen für Harfe selbst. Sie hat ein eigens CD-Label, einen eigenen Notenverlag und einen Online-Shop. 33 Alben hat sie mittlerweile eingespielt, die sie alle selbst produziert und über ihre Homepage vertreibt. Von klassischen Harfenkonzerten von Ernst & Théophile Eichner über Barockmusik, Kammermusik, Crossover und wunderbaren Arrangements von großen symphonischen Stücken wie Smetanas Die Moldau, von Opernarien bis hin zu Popsongs reicht ihr sehr breites Repertoire.

Sie ist Unternehmerin, ihre eigene Managerin und ihr eigenes Logistikunternehmen. Alle Konzerte plant sie selbst, organisiert ihre Reisen, gibt Unterricht und ist dabei noch sehr stark sozial im Bereich der Hospizorganisation engagiert. Sie gibt Konzerte in großen Konzerthallen genauso wie in Seniorenheimen. Sie begleitet bei Beerdigungen die Verstorbenen musikalisch auf ihrer letzten Reise, sie verzaubert Brautpaare an ihrem schönsten Tag, sie unterstützt und fördert dem Nachwuchs im Bereich „Jugend musiziert.“ Sie ist präsent auf Messen, hält Lesungen und ist Werbebotschafterin für ihr Instrument. Aichhorn ist eine Powerfrau, ein Energiebündel, eine Macherin. Sie ist alles, nur nicht das, was man sich landläufig unter einer Harfenistin vorstellt. Dass ihr vollgepackter Alltag nicht routinemäßig abläuft und stets voller schöner wie böser Überraschungen ist.

Ihren ersten Harfenunterricht erhielt Aichhorn 1981 an der Musikschule in der oberbayerischen Kreisstadt Traunstein. Neun Jahre später begann sie ihr Hochschulstudium am Conservatoire de Lausanne, das sie 1997 in Köln abschloss. Mit ihrem umfangreichen Repertoire ist sie in verschiedenen Kammermusikbesetzungen, als Solistin mit Orchester bei internationalen Festivals sowie bei Fernseh- und Rundfunkaufnahmen zu hören. 2006 gründete sie ihr eigenes CD-Label Hörmusik. Aichhorn ist mehrfache Preisträgerin internationaler Wettbewerbe. Besonders bemerkenswert: Seit März 2013 ist sie Hospizbotschafterin der Caritas Traunstein, seit Oktober 2021 der Hospizvereinigung Düren-Jülich und seit 2016 ist sie zudem Geschäftsführerin des Regionalausschusses Jugend musiziert Südostbayern.

Wenn ihr dann noch neben all dem Zeit verbleibt, betätigt sich Aichhorn als Autorin. Lebenslänglich Frohlocken heißt ihr erstes Buch, das 2019 erschien und mit „Skurriles aus dem Alltag einer Harfenistin“ untertitelt ist. Das Coverfoto zeigt Aichhorn als engelsgleiche Harfenistin auf Wolke sieben, die sich gar nicht engelsgleich die Haare rauft. Denn in diesem kurzweiligen Buch beschreibt sie Erlebnisse aus ihrem Berufsalltag, die einem tatsächlich die Haare zu Berge stehen lassen können und räumt dabei bis hin zur Desillusionierung mit den gängigen Klischees auf.  Es sind über 40 kleine Geschichten, die Aichhorn auf gut 180 Seiten präsentiert. Doch hinter jeder Geschichte verbergen sich heitere wie nachdenkliche Episoden, Begegnungen und Erlebnisse. Man taucht ein in die Welt einer freischaffenden Künstlerin und ist schnell von der harten Realität ernüchtert. Das ist kein Glamour-Leben mit Cocktail-Partys, Fünf-Sterne-Hotels und umschwärmenden Fanclubs, das ist der harte Alltag einer Musikerin, die in diesem Business zu überleben versucht und dabei immer Mensch bleibt. Dabei lernt man auch ganz neue Begriffe kennen. Die „Gruft-Mugge“, das musikalische Gelegenheitsgeschäft bei Beerdigungen. Das klingt despektierlich, ist es aber nicht, Künstler untereinander haben ihre eigene Terminologie, und das macht das Ganze wieder so sympathisch. Man leidet mit Aichhorn, wenn sie ihre 40-kg-Harfe alleine aus dem Auto wuchtet und mit einer Sackkarre drei Etagen ohne Aufzug hochschleppen muss. Dass das keine Übertreibung ist, kann man auf einem der vielen YouTube-Videos von und mit der Musikerin sehen.

Man verzweifelt mit ihr am gesunden Menschenverstand von Veranstaltern jeglicher Couleur, die das Unmögliche verlangen, möglichst noch umsonst, die Künstler wie Gebrauchsgegenstände behandeln und oft keinerlei Ahnung von Musik oder dem Instrument haben. Manchmal zitiert sie aus dem E-Mail-Verkehr mit dem Veranstalter, natürlich ohne Namen zu nennen, und da kann man nur noch den Kopf schütteln ob des Dilettantismus dieser so genannten Profis. Aichhorn nimmt das alles mit erstaunlicher Gelassenheit hin, bei ihr steht immer die Musik und die Kunst im Vordergrund, alles andere ist überflüssiges Beiwerk und zu vernachlässigen. Die meisten Geschichten aber sind einfach nur köstlich. Auch eine „Gruft-Mugge“ kann erheiternd sein, wenn der Pfarrer voller Ergriffenheit ob des engelsgleichen Harfenspiel vergisst, dass er eine Beerdigung zu Ende bringen muss. Hysterische Brautmütter, die alle fünf Minuten das musikalische Programm der Hochzeit umschmeißen, Navigationsgeräte, die einen falsch leiten oder vollgestopfte Autobahnen, die die Anreise zum Konzert zu einem Horrortrip machen. Und dann gibt es die alljährliche Bethlehem-Rallye. Nein, das ist keine Rennstrecke in Israel, sondern der weihnachtliche und vorweihnachtliche Wahnsinn, da in dieser Zeit Konzerte mit der Harfe Hochkonjunktur haben.

All das beschreibt Aichhorn in einer sehr eingängigen und plastischen Sprache. Man muss weder Harfenkenntnisse haben noch Musikliebhaber sein, um ihr Buch zu verstehen, denn Skurrilitäten gibt es in jedem Alltag. Aichhorn kann davon nicht nur ein Lied singen, sondern gleich ein ganzes Konzert.

Es gibt aber neben den Banalitäten des Alltags dann auch so großartige Momente wie ein Privatkonzert bei Papst Benedikt XIV in Rom oder ein Kurzauftritt im Bayerischen Komödienstadl als Schwester Leonora. Die Dreharbeiten dazu beschreibt sie herzhaft komisch in dem Kapitel „Nonne und Arschpfeifenrössl.“ Man lernt im Laufe des Buches, dass sie statt „Triumphgemüse“ am Ende eines Konzertes, gemeint ist der obligatorische Blumenstrauß, eher für Schokolade oder Mozartkugeln empfänglich ist. Das Thema Hunger und Essen zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, und eine Burgerkette mit einem goldenen M auf dem Dach ist oft die letzte Rettung nach einem Konzert, bei dem man alles gedacht hat, nur nicht an die Verpflegung für die Künstler.

Besonders berührende Momente in diesem Buch sind die Geschichten, wenn sie in Krankenhäusern oder Altenheimen spielt. Eine sehr bewegende Geschichte erzählt Aichhorn von einem kleinen Konzert in einem Hospiz, das sie für einen im Sterben liegenden Mann gegeben hat, für den sie die Arabesque Nr. 1 von Claude Debussy spielte. Sie schreibt, dass dem Mann am Ende des Stückes die Tränen über die Wangen gelaufen sein, er sie angestrahlt habe, sich bedankt habe, mit der Hand nach oben gedeutet hab und gesagt hat: „Jetzt ist der Weg offen.“ Ein kurzer Moment des Lebensglücks auf dem letzten Weg.

Das Buch ist humorvoll, manchmal bayrisch direkt, aber immer voller Respekt und Anstand, trotz vieler Situationen, die genau das vermissen lassen. Es macht gute Laune und Lust auf Harfenmusik. Ob als Bettlektüre, im Zug, bei schlechtem Wetter auf der Couch, dieses Buch, das es selbstverständlich auch als E-Book gibt, passt immer, weil es so herrlich kurzweilig ist. Am besten dazu im Hintergrund eine der vielen Harfeneinspielungen von Silke Aichhorn laufen lassen, dann kann man schnell und einfach in ihren wunderbaren Kosmos eintauchen.

Andreas H. Hölscher