O-Ton

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Himmel und Hölle

Wer die Oboenkonzerte von Mozart liebt, der kommt an den Einspielungen mit Albrecht Mayer nicht vorbei. Für sein aktuelles Album Mozart: Works for Oboe and Orchestra/Piano hat Mayer vergangene Woche einen Preis für die „Konzerteinspielung des Jahres (Oboe)“ erhalten. Mayer gilt als einer der weltbekanntesten Oboisten, erfolgreich und umjubelt. Doch sein Weg zum Oboen-Olymp war schwer und steinig, in seiner Kindheit war Mayer ein Außenseiter und Stotterer. Wie er es geschafft hat, die Schatten der Vergangenheit zu besiegen, beschreibt seine bewegende Autobiografie Klangwunder, die er mit seiner Co-Autorin Heidi Friedrich geschrieben und vor kurzem veröffentlicht hat. Es ist keine dieser gewöhnlichen Autobiografien von Stars, die zu allem etwas sagen müssen, sondern eine intime Lebensbeichte, ein Seelenstriptease, der den so erfolgreichen Künstler von einer Seite zeigt, wie man es nicht vermutet hätte. Verletzlich, sensibel, nach Liebe und Anerkennung strebend, ein Stotterer als Kind, ein Außenseiter ohne Freunde, verspottet wegen seiner Sprechstörung. Wie die Kraft der Musik mich geheilt hat, so lautet der Untertitel. Mayer wächst in einer gutbürgerlichen Familie im fränkischen Bamberg auf. Sein Vater ist autoritär, herrschsüchtig, streng, aber als Kinderarzt hoch anerkannt und bekannt. Die Eltern streiten sich viel, und das Damoklesschwert der elterlichen Trennung und die mögliche Abschiebung in ein Internat schweben drohend über ihm. Und der kleine Albrecht ist das „stotternde Enfant terrible der Familie“, so lautet gleich der Titel des ersten Kapitels der Autobiografie. Ein Tolpatsch, dem nichts gelingt, der alles kaputt macht, was ihm in die Hände fällt. Der Vater greift schon mal zum Riemen und züchtigt den Jungen, weil er trotz Verbots wieder was angefasst und zerbrochen hat, was das Stottern natürlich nur noch verschlimmert. Lediglich seine Oma Anni ist die gute Seele in Albrechts kindlichem Umfeld, die ihn beschützt und Geborgenheit gibt. Albrecht ist ein unruhiges, hyperaktives, aber neugieriges Kind. Aufgrund seines Stotterns wird er gehänselt, nicht nur von den Mitschülern, auch einige Lehrer verschlimmern durch ihr demütigendes Verhalten die Lage für Albrecht. Wer selbst dieser Generation entstammt, Mayer ist Jahrgang 1965, kann vielleicht ermessen, welche Leiden er als Kind hat erdulden müssen.

Doch dann geschieht ein Wunder. Der Vater kauft dem Sohn eine Oboe. Er hofft, mit einer neuen Atemtechnik könne der 10-jährige Albrecht das Stottern überwinden, die Oboe quasi als Therapie. Außerdem werden im Schulorchester noch zwei Oboisten gesucht, so dass Albrechts Bruder gleich das Instrument miterlernen muss. Albrecht ist fasziniert von diesem Instrument, und er entwickelt eine ungeahnte Leidenschaft für das Musizieren. Er lernt schnell, hat eine hohe Auffassungsgabe. Ein Intelligenztest bestätigt, dass Albrecht hochbegabt ist. Die Oboe wird zu seiner Freundin, und plötzlich hat der Junge Erfolgserlebnisse, wird für sein Spiel gelobt und geschätzt. Mayer beschreibt diesen Wandel so: „Die Oboe ist mein Schicksalsinstrument. Sie ist das Beste, was mir in meinem Leben hätte passieren können, was mein Vater je hätte für mich tun können. Sie war das Entrée in eine bessere Welt für mich. Ich bin der höheren Macht, die mich gelenkt hat, dafür unendlich dankbar. Und meinem Vater, der ursprünglich ja gar keine Musikerkarriere für mich im Sinn hatte. Doch welche Ironie: Der Mensch, der sicherlich nicht ganz unschuldig daran war, dass ich stotterte, gab mir gleichzeitig das Werkzeug an die Hand, mit dem ich letztendlich meine Behinderung nicht nur überwand, sondern mich zu Höhenflügen aufschwang.“

Und das Wunder tritt tatsächlich ein, Albrecht überwindet seine Sprechstörung. Doch weniger aufgrund der erlernten Zwerchfellvibration-Atemtechnik, die Albrecht im Laufe seiner Karriere perfektioniert, sondern durch das neue Selbstwertgefühl, dass ihm das Spiel auf der Oboe verschafft. Dann geht es Schlag auf Schlag. Albrecht spielt im Bayerischen Landesjugendorchester, macht auf sich aufmerksam. Doch seine aufstrebende Karriere erhält einen ersten Dämpfer, Albrecht wird als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr gezogen. Eine Armee im Kalten Krieg, mit damals noch knallharten Hierarchien und einem Umgangston, der für den sensiblen Musikus kaum zu ertragen ist. Der Dienst an der Waffe ist für ihn unerträglich, doch die Verweigerung des Kriegsdienstes kam für ihn aufgrund seines konservativen und autoritären familiären Umfeldes nicht in Betracht. Zudem hat Albrecht ein Autoritätsproblem, er stellt alles in Frage, eckt an, wird drangsaliert und diszipliniert. Dennoch wird auf seine musikalische Begabung Rücksicht genommen, und nach der Grundausbildung darf er seinen Wehrdienst beim damaligen Heeresmusikkorps 4 in Regensburg ableisten und während des Dienstes Musik machen. Nach dieser für ihn belastenden Zeit studiert Albrecht bei Ingo Goritzki in Hannover. Hier muss er schmerzlich lernen, dass er sich wieder unterordnen muss und die ganzen Vorschusslorbeeren aus dem Bayerischen Landesjugendorchester nichts zählen. Aber Mayer zieht das Studium erfolgreich durch.

Mit gerade mal 25 Jahren wähnt sich Albrecht am Ziel, er wird Solo-Oboist bei den Bamberger Symphonikern in seiner fränkischen Heimatstadt. Sein Vater ist jetzt stolz auf ihn, auch weil er in Albrecht das verwirklicht sieht, was ihm selbst verwehrt geblieben ist, eine Musikerkarriere. Zwei Jahre später geschieht das Unglaubliche. Die Stelle des Solo-Oboisten bei den Berliner Philharmonikern ist neu zu besetzen, ein Freund hat ihn darauf aufmerksam gemacht. Über 250 Bewerber weltweit für diese Stelle, 28 werden zum Vorspiel eingeladen. Albrecht fährt hin, rechnet sich keine reelle Chance aus, will das Vorspielen als Erfahrung mitnehmen. In insgesamt drei Runden kann sich Albrecht Mayer durchsetzen und erhält die wohl begehrteste Stelle für einen Oboisten. Und wieder fängt Albrecht von vorne an. Die zweijährige Probezeit ist nicht nur Himmel, sondern auch Hölle für den Musiker, der sich nach nichts mehr sehnt als Anerkennung und Liebe. Er wird gemobbt, zu Unrecht kritisiert, klein gehalten von seinen Orchesterkollegen. Es ist das früher und wohl auch in einigen Orchestern heute noch übliche Verhalten der arrivierten Musiker gegenüber den Neulingen. Lediglich Claudio Abbado, der damalige künstlerische Leiter der Berliner Philharmoniker, pflegte einen liebevollen Umgang mit dem jungen Albrecht und förderte ihn, so gut es ging. Das von Abbado gegründete Lucerne Festival Orchestra war dann oft auch Spielstätte für Mayer. Als die Probezeit endlich vorbei war, passierte das nächste Wunder. Albrecht wurde, wenn auch mit knappem Votum, als fester Musiker der Berliner Philharmoniker übernommen, womit er nach dieser unglücklichen Zeit überhaupt nicht mehr gerechnet hat. Und schlagartig änderte sich das Verhalten der Kollegen ihm gegenüber, er war nun einer der Ihren, ein arrivierter, der es geschafft hat.

Nun stand der Karriere nichts mehr im Weg. Albrecht Meyer, das stotternde Kind, hatte den Oboen-Olymp betreten. Auftritte auf der ganzen Welt mit den renommiertesten Orchestern und Dirigenten sollten folgen, zahlreiche CD-Einspielungen zeugen von der Musikalität und durchdrungenen Tiefe des Ausnahmekünstlers. Die Oboe hatte ihn geheilt und den Weg in eine neue Welt eröffnet. „Ich wurde auf zwei Arten von der Musik geheilt – passiv und aktiv. Ich darf sie hören und erfahren. Und heilen. Und ich darf Musik auch machen. Wie oft habe ich von Menschen gehört, dass ich sie durch meine Musik aus einem schlimmen seelischen Tief herausgeholt hätte. Auch dieses wunderbare Feedback heilt mich, weil es mich in meinem Selbstwert bestätigt. Es ist wie mit einem Perpetuum mobile, das ewig hin und her schwingt. Ich helfe anderen, was wiederum mir hilft“, erzählt Mayer.

Ein vorläufiger Höhepunkt seiner Karriere war sein Debüt mit den Berliner Barocksolisten im November 2007 in der New Yorker Carnegie Hall, 2008 ein weiterer Auftritt mit dem Orpheus Chamber Orchestra und dem Oboenkonzert von Richard Strauss folgte. Diesen großen Erfolgen, denen viele weitere folgen sollten, waren harte Jahre des Übens und Lernens vorangegangen. Und Albrecht Meyer ist ambitioniert und ehrgeizig, will den perfekten Klang kreieren. Mit dem befreundeten Instrumentenbauer Ludwig Frank entwickelt er eine, von der Firma Gebrüder Mönnig hergestellte Oboe d’amore, die er seit 2009 spielt, und die sehr nahe an sein Klangideal heranreicht. Mayer spricht auch vom „Gesang der Oboe“. In einem Kapitel widmet er sich den technischen Dingen des Oboen-Spiels, spricht aber auch von den gesundheitlichen Herausforderungen, wie dem konstant hohen Druck, der durch das Spielen erzeugt wird, und die Gefahr, durch das atmungsbedingt zu viel angereicherte Kohlendioxid während des Spielens ohnmächtig zu werden und wie er durch die Perfektion seiner Atemtechnik quasi beim Spiel eins wird mit seinem Instrument.

Mayers drei Musikgötter sind Bach, Beethoven und Mozart, mit denen er eine Seelenverwandtschaft auf unterschiedlichen Ebenen spürt. „Ja, die Kraft der Musik hat mich geheilt. Nicht nur, dass ich Musik machen, mit meiner Oboe sprechen und singen darf, vor allem die Kraft der Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven haben zu der Heilung der Verletzungen meiner kindlichen Seele beigetragen. Und noch heute stärken sie mich und helfen mir durch schwierige Stunden“, sagt Mayer über die drei großen Komponisten. Immer wieder kehrt Albrecht in seiner Autobiografie zu den Erlebnissen seiner Kindheit zurück, die ihn so traumatisiert haben, und von denen er sich dann im Laufe des Lebens hat befreien können. Hinzu kommt ein religiöser Aspekt. Mayer ist gläubig, und seinen Glauben hat er vor allem durch die Musik gefunden. „Verbunden hat die drei Komponisten zudem, dass sie religiöse Werke geschaffen haben, die eine einzigartige Überhöhung spüren lassen und wahrhaft in die Transzendenz deuten. Ich bin davon überzeugt, dass Gott durch diese Komponisten und ihre Werke zu uns spricht. Denn sie führen uns in eine Sphäre, die dem Höchsten gewidmet ist, egal, welchen Namen er trägt. Sie wurden von Gott mit Sicherheit als Werkzeug ausgewählt, um eine Verbindung zu ihm herzustellen.“ So sind seine gespielten Stücke nicht einfach nur Melodien, sondern eine transzendente Verbindung zu den Komponisten, die durch das Spiel seiner Oboe scheinbar zu uns sprechen. Ganz besonders bemerkbar macht sich das auf seinem aktuellen Album, wo er ein Arrangement von Mozarts Ave verum corpus (KV 618) für Oboe spielt. Das Ave verum corpus ist eine Motette in D-Dur für vierstimmigen gemischten Chor, Streicher und Orgel. Insbesondere der leise anstimmende Chorgesang macht das Stück so bewegend. Albrecht Mayers Oboe ersetzt hier den ganzen Chor, und doch ist es wie Gesang, wenn er diesen Hymnus anstimmt. Das ist das Klangwunder, das Albrecht mit seiner Oboe produziert, von berührender Schönheit und der menschlichen Stimme so nah.

Mayer ist stolz auf das, was er erreicht hat. Eine Sammlung hochwertiger Armbanduhren ist auch für ihn ein Zeichen seines Erfolges. Doch das Wichtigste ist ihm auch heute noch die Bewunderung, die Zuneigung und die Liebe seiner Fans. Er braucht den Applaus zum Leben wie die Luft zum Atmen. Die Corona-Pandemie, der damit verbundene Lockdown und der Stillstand des Kulturbetriebes hat ihn aus einem wild drehenden Hamsterrad zum Stillstand gebracht. Da war sie wieder da, die Angst vor den alten Dämonen. Doch seine Frau und vor allem seine kleine Tochter Laura haben ihn auch durch diese Zeit geführt, in der er sein letztes Album einspielen konnte, wofür er jetzt ausgezeichnet wurde.

Diese Autobiografie ist nicht nur ein sehr persönliches und intimes Lebensbekenntnis eines großen Künstlers, es ist auch bewegend und spannend formuliert. Man kann diese Biografie ohne Pause durchlesen, so sehr fesselt der Mensch und Künstler Albrecht Mayer nicht nur mit seiner Musik, sondern auch mit seinen Worten. Am Ende des Buches fühlt man sich ihm so nah, als ob man ihn schon ewig kennt, wie einen alten Jugendfreund. Wenn man dann seine Einspielungen wieder hört, dann bekommt das Wort Klangwunder eine neue Bedeutung, und der Gesang der Oboe wird noch bewusster hörbar. Und dass das Buch auch Teil einer lebenslangen Therapie ist, das beweisen die letzten Zeilen Albrecht Mayers in seiner Autobiografie: „Sollten Sie also irgendwann einem kleinen, blassen sommersprossigen Jungen begegnen, der große Mühe hat, sich zu artikulieren, der vielleicht Zeit braucht, um einen Satz vollständig auszusprechen, dann – bitte – gehen Sie behutsam und geduldig mit ihm um! Denn: Wer weiß, was noch aus ihm werden kann …“ Mit seinem Vater hat sich Albrecht längst versöhnt und ihm die Autobiografie gewidmet.

Dieses Buch ist nicht nur für Liebhaber der Musik von Albrecht Mayer ein Muss, sondern es spricht durch seine so offene Darstellung seiner Erlebnisse eigentlich jeden sensiblen Menschen an. Einige Fotos aus seinem Privatarchiv veranschaulichen die persönliche und liebevolle Darstellung. Das ist eine Biografie, die jede Seite des Buches wert ist, gelesen zu werden.

Andreas H. Hölscher