O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Travestie der Geschlechterrollen

Der Titel klingt verlockend: Diva – Eine etwas andere Opernverführerin. Auch das Coverfoto erscheint verführerisch. Ein neuer Opernführer, mit großen Diven in den Hauptrollen. Oder geht es um die Göttin, die Diva, in der Oper? Und wer will hier wen verführen? Wenn heute in den Medien über eine Operndiva, also eine „Göttin der Oper“, gesprochen wird, dann fällt meist der Name Anna Netrebko. In den Glanzzeiten der fünfziger und sechziger Jahre konkurrierten Sängerinnen wie Maria Callas und Renata Tebaldi um diese glamouröse Ehrbezeichnung. Also, dann schnell die Opernverführerin zur Hand genommen und eintauchen in eine illustre Welt der großen Frauenrollen in der Oper und deren Verkörperung auf der Bühne.

Doch schon bei der Einleitung des Buches wird deutlich, mit dieser profanen Darstellung der Frauenfiguren in der Oper hat die Autorin des Buches, Barbara Vinken, nun gar nichts am Hut. Die gebürtige Hannoveranerin ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin, Modetheoretikerin und seit 2004 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einem breiten Publikum wurde Vinken mit ihrem Buch Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos bekannt, in dem sie den Mythos der Mütterlichkeit und die Un-Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf in Deutschland analysiert. Ihr letztes Buch Angezogen. Das Geheimnis der Mode war 2014 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert. Mit diesem Background ist klar, Diva ist kein Opernführer im klassischen Sinne, sondern Vinken nähert sich mit einem sehr literaturwissenschaftlich gehaltenen Sprachstil diversen Frauenrollen in der Oper.

„Warum ein Buch zur Oper, das mit Mozarts Königin der Nacht als Antimutter beginnt? In Verkehrung der jahrzehntelang regierenden Übermutter Maria Theresia und Richard Strauss’ schöner Feldmarschallin mit dem Namen Marie Theres steht das Buch in einer Maria-Theresia-Klammer und hat etwas von einer ‚Wiener Maskerad‘ (Rosenkavalier:121). Warum eine Reihe von Opern, denen bestenfalls romantische (Verdi), schlimmstenfalls rokoko-verherrlichende und also eine anti-moderne Rückwärtsgewandtheit (Strauss) nachgesagt wird? Warum überhaupt ein Buch zur Oper, die man als elitär unkritisches Divertissement abgetan hat, in dem hauptsächlich geschmäcklerische Kennerschaft zählt?“ So beginnt Vinkens Buch, und spätestens nach dieser Einleitung wird dem Leser klar, hier muss er sich bei der Lektüre auf eine hochkomplexe Thematik und einen nicht eingängigen Schreibstil einlassen, denn für Vinken liegt die Sprengkraft der Oper, von Mozart bis hin zum Rosenkavalier, in der Travestie der Geschlechterrollen und der Klassenklischees. In der Analyse zum Stand der Oper in der Gesellschaft kommt Vinken zu einer sehr interessanten, aber auch diskussionswürdigen Aussage:

„Mich interessiert sie als raffiniert witzige Reflexion auf Geschlechterkonstellationen. Mit dem Hetero-Normativen sprengt die Oper jedes Genderkorsett. Wie keinem anderen Genre außer der Mode ist es der Oper gegeben, Geschlechtsrollen zu entnaturalisieren, sie kunstvoll als Rollen und nicht als Natur aufscheinen zu lassen.“ Als ganz besonderes Beispiel nennt Vinken die Kastratenstimme, die sie als besonders heroisch beschreibt. Countertenor und Hosenrollen entnaturalisierten die Geschlechterrolle. Die Oper sei „pansexuell wie nicht-binär“, so ihr Credo. Die Oper, sagt Vinken, sei ein hochpolitisches subversives Genre, das die angeblich „natürlichste“ aller Oppositionen zersetzt, die aller Politik der Moderne, weil sie Geschlechterpolitik ist, zu Grunde liegt: die Opposition von Männern und Frauen.

Vinken geht es also in ihrem Buch um eine moderne Geschlechterdarstellung in der Oper, einschließlich der diversen Formen der Sexualität, in der Männer dominieren und Frauen die Opfer sind. Noch ein Statement lässt aufhorchen, denn für Vinken spielen Wagners Opern in diesen Diskurs der Regeneration ganzer, oft deutscher Männlichkeit hinein, und haben deshalb hier keinen Platz. Eine interessante wie fragwürdige Entscheidung, große Frauenfiguren wie Brünnhilde, Isolde, Elisabeth, Elsa, Senta oder Kundry einfach mal zu exkludieren. Vinken legt den Schwerpunkt auf einen anderen Typus Frau, die „Wagnersche Erlösungsmentalität“ ist ihr wohl zu suspekt und aus „der Rolle gefallen.“ Für ihre Analyse des weiblichen Geschlechts in der Oper teilt Vinken das Buch in fünf große Abschnitte. Der erste Part, Vorspiel genannt, ist drei Opern von Wolfgang Amadeus Mozart gewidmet. Das erste Kapitel gilt Le nozze di Figaro, als Bettgeschichten übertitelt. „Bereits die Zeitgenossen sahen das Skandalöse des Figaro weniger im Politischen – ein Stand gegen den anderen, Figaro gegen den Grafen – als im Sexualpolitischen. Schließlich steht quasi permanent ein flagrant délit, und besonders heikel, ein flagrant délit zwischen der Gräfin und dem Pagen Cherubino im Raum. Nicht die Frage der Stände, sondern die der Ehe als Besitz- und Herrschaftsverhältnis, die Frage der Geschlechtermoral also steht im Zentrum schon des Theaterstücks.“

In diesem Stil und in diesem Duktus wird die Oper seziert, und das gilt natürlich auch für die folgenden. Così fan tutte und Die Zauberflöte komplettieren das Vorspiel des Buches. Dabei greift Vinken auch immer wieder auf Vergleiche aus der griechischen Mythologie zurück und setzt sie in Analogie zum Operngeschehen. Aber auch die Libretti werden von ihr einer genauen Analyse unterzogen, viele ihrer Theorien versucht sie, anhand der Texte zu untermauern, selbst wenn die Musik an dieser Stelle etwas anderes auszudrücken vermeint. Vincenzo Bellinis Norma widmet Vinken sogar einen eigenen Abschnitt, natürlich ragt diese Figur aus dem Opernschaffen heraus. Das gebrochene Keuschheitsgelübde und ihr freiwilliger Tod auf dem Scheiterhaufen hat wahrlich Wagnersche Dimensionen, und die Rolle der Norma ist untrennbar mit einer der echten Diven des letzten Jahrhunderts verbunden, mit Maria Callas.

Verdis Opern dürfen vermutlich in einer derartigen Zusammenstellung nicht fehlen, und die tragischen Frauenfiguren Gilda in Rigoletto und Violetta in La Traviata sowie Elena in Les vêpres siciliennes gelten bei Vinken in ihrer Analyse am Schluss der Oper als erlöst. Unerlöst dagegen sind für Vinken Tosca, Cio-Cio-San, Carmen und Santuzza, auch wenn nicht alle Argumente für oder gegen „Erlösung“ sich einer eingängigen Sprachregelung unterordnen. Im letzten großen Abschnitt stehen Alban Bergs Lulu und der Rosenkavalier von Richard Strauss, mit dem passenden Untertitel Liebe und Vergänglichkeit. Insbesondere für die Rolle der Feldmarschallin scheint Vinken eine besondere Sympathie zu entwickeln, so wie sie die Figur charakterisiert, besonders wenn sie von der Vergänglichkeit der Liebe und spricht.

Auf über 400 Seiten verdichtet Vinken ihre Analysen und Theorien. Dieser Opernführer liest sich nicht einfach so weg wie ein Krimi oder ein Historienroman, sondern man muss tief eintauchen sowohl in griechische Mythologie als auch in moderne Gendersprache. Das ist mitunter zäh, und manchmal ist der weibliche Blick auch etwas eindimensional. Wer die im Buch beschriebenen Opern und deren meist tragische Frauenfiguren nicht kennt, wird Schwierigkeiten haben, den Aussagen Vinkens zu folgen. Als gemeiner Opernführer taugt das Buch nicht. Wer die Opern aber kennt und sich auf den Sprachduktus von Vinken einlässt, der kann sich tatsächlich verführen lassen, entdeckt am Ende ganz neue Facetten dieser Werke und sieht die besprochenen Frauenfiguren in einem ganz anderen Licht.

Andreas H. Hölscher