O-Ton

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Seilschaften und Bünde

Das Schweigen. Dieses gottverdammte Schweigen, das die Kinder und Enkel mit Wut erfüllte, nach dem Krieg. Plötzlich wussten die Eltern nicht mehr, wie all die Hakenkreuz-Fahnen an die Häuserfassaden gekommen waren, wer all die Leute waren, die Adolf Hitler zugejubelt und die Welt in einen Krieg gestürzt hatten. Keiner, der noch darüber reden wollte, dass Juden und ihre Geschäfte aus den Städten verschwanden, keiner, der sich erinnern wollte, wie die Kriegswirtschaft funktionieren konnte, obwohl die Männer an der Front waren. Weil Zwangsarbeiter, also Kriegsgefangene und Menschen, die aus ihrer Heimat verschleppt wurden, unter unwürdigen Umständen für die Deutschen schufteten. Über all das wollten die Deutschen nach dem Krieg nicht mehr reden, bestenfalls schamerfüllt.

Ralf Siepmann ist in Neustrelitz geboren, wuchs in Rietberg auf und besuchte das Ratsgymnasium Wiedenbrück. Nach einem Zeitungsvolontariat und einer beruflichen Station als Redakteur in der Lokalpresse studierte er Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und wurde an der Freien Universität Berlin promoviert. Anschließend bekleidete er verschiedene Positionen als PR-Arbeiter etwa beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, beim Deutschlandfunk, bei der Deutschen Welle, ehe er als Kommunikationsberater selbstständig wurde. Heute arbeitet er hauptsächlich als Opern- und Konzertkritiker, so auch für O-Ton. Nun hat er seinen ersten Roman veröffentlicht.

Im knapp 280 Seiten starken Blutwappen werden Leichen entdeckt, prominent in den Stadtzentren von Wiedenbrück und Wien drapiert. Mit historischer Detailfreude und viel Lokalkolorit unter anderem der eigenen Heimat stürzt sich Siepmann in das Jahr 1965, lässt die Ermittlungsarbeiten der Behörden anlaufen. Es dauert eine Weile, bis klar wird, dass der Autor es nicht bei Fragen der nachfolgenden Generationen an die Eltern belassen will. Alsbald zeigt er auf, dass die Zwangsarbeiterschaft längst nicht nur Deutschland, sondern auch andere Staaten betraf. Als den Kindern der Nachkriegsgeneration klar wird, was es eigentlich beispielsweise mit diesem Stalag 326 (VI K) Senne auf sich hat, beginnen sie selbst, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Das „Stammlager“ in Westfalen durchlief jeder dritte sowjetische Kriegsgefangene, der zwischen 1941 und 1945 in das so genannte Deutsche Reich kam. Das „Russenlager“, das durchaus auch französische, polnische, serbische, italienische und belgische Kriegsgefangene unterbrachte, versorgte praktisch Unternehmen in ganz Nordrhein-Westfalen mit Arbeitskräften. Unternehmen, die nach dem Krieg davon nichts mehr wissen wollten, dass sie die Menschen bis aufs Blut ausgebeutet hatten, diesen Teil der Geschichte einfach ausblendeten und sich gegenseitig bis hinauf in höchste Regierungskreise vor Entschädigungszahlungen schützten. Sie sollen nun Verantwortung zeigen – oder ihre Strafe bekommen.

Es dauert, bis die Ermittlungsbeamten in Wiedenbrück und Wien erkennen, dass die Opfer Täter sind. Bis dahin lässt Siepmann den Leser an den Entwicklungen einer für die frühen Jahre erstaunlich guten Zusammenarbeit der Polizeien verschiedener Länder teilhaben, nicht ohne die persönlichen Befindlichkeiten einzelner Beamter aufzuzeigen. Siepmann gelingt es, die Welt von 1965 wieder aufleben zu lassen und gleichzeitig den Blick weit in die Vergangenheit zu richten. Das ist klug gemacht und bereitet einigen Lesespaß, der nicht über die moralische Frage hinwegtäuscht.

Es ist die alte Frage nach der Rechtfertigung von Lynchjustiz, wenn die Ermittlungsbehörden nicht in der Lage zu sein scheinen, das Unrecht der Vergangenheit aufzuarbeiten. Der Autor beantwortet sie eindeutig, aber nur für sich, wenn er die Täter, die die Täter hinrichten, von der Polizei überführen lässt. Was den Nachkriegsgenerationen nicht gelang, nämlich Netzwerke gegen die Netzwerke der alten Nazis zu errichten, funktioniert im Roman. Und das hat weitreichende Konsequenzen.

Es macht Spaß, sich auf die atmosphärische Dichte der Schilderung einzulassen, vielleicht auch viele Errungenschaften dieser Zeit mit einem Schmunzeln der Erinnerung zu quittieren, erfordert aber auch Konzentration, wenn es um Geschichte und „Flechtwerke“ geht. Was nach der Lektüre wächst, ist der Wunsch, das Stalag 326 (VI K) Senne selbst einmal zu besuchen, das als Gedenkstätte in Schloss Holte-Stukenbrock weiter existiert. Und damit hat Siepmann, neben seiner Geschichte, viel erreicht.

Michael S. Zerban