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Buch

150 Jahre Schöngesang

Zum 150. Geburtstag der Wiener Staatsoper erschien im Februar des vergangenen Jahres ein besonderer Bildband mit dem Namen Bel Canto, der an die schönsten Stimmen der vergangenen einhundertfünfzig Jahre, die im „Haus am Ring“ aufgetreten sind, erinnern soll. Manche von Ihnen wirkten hier ein ganzes künstlerisches Leben, andere gastierten nur wenige Male, aber sie alle sind ein Teil der Geschichte der Wiener Staatsoper und ihrer Stimmen. Stellvertretend für die vielen tausend Künstler wurden 150 ausgewählt, die dem Haus, seiner Geschichte und seinem Publikum bis heute etwas bedeuten.

Wer erinnert sich denn noch an Kammersänger Hans von Rokitansky? Der österreichische Bass sang im Alter von 34 Jahren den Leporello in der Eröffnungsvorstellung mit Mozarts Don Juan am 25. Mai 1869 und damit quasi den ersten Opernton im „Haus am Ring“. Ein ganzseitiges historisches Schwarzweiß-Porträt von Rokitansky dokumentiert den geschichtsträchtigen Moment. Dominique Meyer, Direktor der Wiener Staatsoper, beschreibt in seiner Einleitung die Geschichte des Operngesangs in Wien, ausgehend vom Beginn des 18. Jahrhunderts, als vor allem Kastraten aus Italien, unter ihnen der berühmte Farinelli, in Wien auftraten. War die dominierende Opern-Sprache bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Italienisch, wurden ab 1848 Opern in Wien ausschließlich auf Deutsch gespielt. Das blieb auch unter der Intendanz von Karl Böhm nach der Wiedereröffnung der Staatsoper 1955 so, erst sein Nachfolger Herbert von Karajan modernisierte das System und ließ die Opern in Originalsprache spielen. Mit Beginn der Ära von Karajan kamen auch die internationalen Stars der Gesangsszene nach Wien, und im Laufe der Jahrzehnte wurde die Wiener Staatsoper zu einem der weltweit führenden Opernhäuser, auch dank der Sängerinnen und Sänger, die an diesem Hause aufgetreten sind.

Das Buch Bel Canto ist eine Hommage an die Menschen, ohne die die Kunstform Oper nicht existieren könnte, und deren im wahrsten Sinne des Wortes „Schöngesang“ Generationen von Besuchern der Wiener Staatsoper begeistert hat. Unter der Überschrift Bel Canto 1 findet man auf 36 Seiten meist doppelseitige Porträts von Sängern und Sängerinnen, die man in den aktuellen Spielplänen der Wiener Staatsoper häufig als Gast sieht, angefangen von Juan Diego Flórez über Joyce Didonato bis hin zu Roberto Alagna. Es sind in Pose gesetzte Bilder, wie das von Elina Garanca mit Lockenwicklern und einem verschmitzten Lächeln in der Garderobe, René Pape im Schneidersitz und ausgebreiteten Armen auf einem Bistrotisch oder das von Simon Keenlyside auf dem Schnürboden.

Diese Fotos, gekonnt arrangiert von Lois Lammerhuber, haben eins gemeinsam: Sie drücken die Verbundenheit dieser Sänger zu ihrem Haus aus und ermöglichen dem Leser Einblicke, die ihm sonst hinter den Kulissen der Staatsoper verwehrt bleiben.

POINTS OF HONOR

Buchidee
Stil
Erkenntnis
Preis/Leistung
Verarbeitung
Chat-Faktor

In drei dreisprachigen Kapiteln – deutsch, englisch und französisch – wird die Chronik der Staatsoper auch anhand von besonderen Anekdoten und Geschichten erzählt. Im ersten Kapitel widmet sich der Musikforscher Clemens Höslinger den Sängern und Sängerinnen der alten Hofoper. Eine tragische Geschichte ist die des Bassbaritons Emil Scaria, dessen Gesangskraft in einem geflügelten Wort zum Ausdruck kam: „Singt der Scaria in der Oper eine Aria, dann hört man ihn bis zur Bellaria.“ Er war der erste Gurnemanz in Bayreuth, der sich sogar mit seiner erfolgreichen Empfehlung an Wagner, vor der Stelle „so ward es uns verhießen“ ein paar Paukenschläge einzufügen, in der Partitur des Parsifal verewigen konnte. Doch dieser große Sänger verlor sein Gedächtnis, hatte Wahnsinnsattacken und starb kurz nach seinem letzten Auftritt in Wien als Hermann, Landgraf von Thüringen. Weitere Anekdoten von noch heute berühmten, aber auch vergessenen Sängern machen dieses Kapitel besonders lesenswert.

Es schließt sich die Ära von 1914 bis 1955 an, die von den beiden Dramaturgen der Wiener Staatsoper, den Brüdern Andreas und Oliver Láng, sehr plastisch beschrieben wird. Es folgen Namen, die auch heute noch unvergessen sind und ihre Zeit wie kaum ein anderer geprägt haben. Leo Slezak, Lotte Lehmann und vor allem Maria Jeritza, die im „Haus am Ring“ an 621 Abenden auf der Bühne stand und in ihrem Fach die große Gegenspielerin der Lehmann zu ihrer Zeit war. Es ist nicht nur die Ära von großen Sängern, sondern auch die von namhaften Direktoren wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Clemens Krauss. Doch in die Zeit fällt auch das dunkelste Kapitel der Wiener Staatsoper, das leider nur mit einem Absatz erwähnt wird, von März 1938, dem „Anschluss“ Österreichs an das so genannte Deutsche Reich bis zur Zerstörung der Oper 1945 kurz vor Kriegsende. Es war die Zeit, in der jüdische Künstler Auftrittsverbote bekamen, vertrieben, interniert oder ermordet worden. Viele konnten in die USA emigrieren, darunter so bekannte Namen wie Alexander Kipnis, Richard Tauber, Jan Kiepura, Lotte Lehmann und Alfred Piccaver. Am 12. März 1945 wurde das „Haus am Ring“ durch Bombentreffer weitgehend verwüstet, doch bereits am 1. Mai 1945 wurde die „Staatsoper in der Volksoper“ mit einer Aufführung von Mozarts Die Hochzeit des Figaro eröffnet, am 6. Oktober 1945 folgte die Wiedereröffnung des in aller Eile restaurierten Theaters an der Wien mit Beethovens Fidelio. Damit gab es für die nächsten zehn Jahre zwei Spielstätten, während das eigentliche Stammhaus mit großem Aufwand wiedererrichtet wurde. Nur die Hauptfassade, die Feststiege und das Schwindfoyer waren von den Bomben verschont geblieben – mit neuem Zuschauerraum und modernisierter Technik wurde die Wiener Staatsoper glanzvoll mit Beethovens Fidelio unter Karl Böhm am 5. November 1955 wiedereröffnet. Die Eröffnungsfeierlichkeiten wurden vom Österreichischen Fernsehen übertragen und in der ganzen Welt zugleich als Lebenszeichen der neuerstandenen Zweiten Republik verstanden.

Elīna Garanča – Foto © Lois Lammerhuber

Im letzten Kapitel, der Zeit von 1955 bis heute, beschreibt Erich Seitter die unterschiedlichen Gesangsfächer und Stimmlagen wie Sopran, Mezzosopran und Tenor bis Bass, wobei er die Abschnitte noch einmal unterteilt in die Zeit von 1955 bis 1970 und seit 1970 bis heute. Auch diese Zeit wird von großen Namen geprägt, die damals noch teilweise am Beginn ihrer Karriere standen. Elisabeth Schwarzkopf, Elisabeth Höngen, Irmgard Seefried, Max Lorenz, Paul Schöffler und Julius Patzak stehen für die ersten Jahre, während so klangvolle Namen wie Edita Gruberova, Mirella Freni, Grace Bumbry, Luciano Pavarotti, Placido Domingo, Leo Nucci und  Nikolaj Gjaurow für die mittlere Phase der Neuzeit stehen. Heute dominieren Künstler wie Anna Netrebko, Elīna Garanča, Jonas Kaufmann und René Pape den Spielplan der Wiener Staatsoper. Seitter verzichtet in seinem Kapitel auf die obligatorischen Klatsch- und Tratsch-Geschichten über die Publikumslieblinge in Wien, sondern nähert sich ihnen vom Stimmfach aus. Das liest sich dann zwar nicht ganz so eingängig, charakterisiert die Künstler aber deutlich besser und erleichtert dem Leser, dem die beschriebenen Sänger nicht so vertraut sind, die Zuordnung zu den jeweils korrespondierenden Rollen in ihrem Fach.

Der zweite, größere Abschnitt des Buches mit der Überschrift Bel Canto 2 zeigt nun in ganzseitigen Bildern Sänger und Sängerinnen in ihren jeweils größten Rollen an der Wiener Staatsoper, wobei die Chronologie jetzt rückwärtsgewandt ist. Es beginnt mit Klaus Florian Vogt als Lohengrin, Renée Fleming als Feldmarschallin bis hin zu Peter Seiffert als Tristan und zeigt dabei auch die Vielfältigkeit des Spielplans der Wiener Staatsoper. Die weiteren Porträts zeigen dann die Künstler zwar im Rollenkostüm, aber es sind gestellte Porträtaufnahmen ohne Bühnenkulisse. Hier finden sich Namen wie Brigitte Fassbaender, Katia Ricciarelli, Matti Salminen, Gundula Janowitz, René Kollo bis hin zu Giacomo Aragall. Es folgen dann noch über 80 ganzseitige Fotos in Schwarz-Weiß, Ausnahme ist das doppelseitige Foto von Renata Tebaldi als Tosca, die chronologisch zurückgehen bis in die ersten Jahre der Wiener Hofoper, und deren Namen bei Opernfreunden doch den einen oder anderen wohligen Schauer auslösen. Es sind Sänger und Sängerinnen wie Rudolf Schock, Hilde Güden, Leonie Rysanek, Tito Gobbi, Elisabeth Schwarzkopf, Giuseppe di Stefano und viele andere mehr, die ihre Zeit künstlerisch geprägt haben. Die letzten Fotos zeigen die Großen der Anfangsphase der Wiener Hofoper und entführen den Leser für einen Moment in Zeiten, die jetzt schon fast 100 Jahre und mehr zurückliegen. Jan Kiepura, Maria Jeritza, Leo Slezak, Richard Tauber, Selma Kurz, Lotte Lehmann, Max Lorenz und Enrico Caruso.

Der Bildband Bel Canto ist nicht nur eine Kurzchronik über 150 Jahre Wiener Staatsoper, es ist eine Hommage an die Sängerinnen und Sänger in dieser Epoche, die mit ihrem sprichwörtlichen Schöngesang das Publikum, den Opernfreund immer wieder aufs Neue begeistert haben und es auch heute noch tun. Es ist gleichzeitig ein schönes Geschenk für Opernliebhaber und Freunde der Wiener Staatsoper.

Andreas H. Hölscher