O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Vibrierende Pünktchen

Einer der wichtigsten Abschnitte im Leben eines Menschen ist die Ausbildung. Egal, ob Lehre oder Studium, es ist eine Zeit, die das weitere Leben prägt und die unvergessen bleiben wird. Zu diesem Erfahrungsschatz gehören für viele junge Leute auch die einsamsten Momente, die sie je in ihrem Leben erfahren werden. Die Rede ist von der Zeit unmittelbar vor der Abschlussprüfung. Ausbilder und Lehrer kennen die Situation. Für den Prüfling ist es eine nie erlebte, einzigartige Gefühlswelt, in die er geworfen wird. Die gesamte berufliche Zukunft hängt scheinbar von diesem einen Tag ab. Und auch, wenn niemand darüber spricht, gibt es nicht wenige Auszubildende, die mit Torschlusspanik reagieren. Außer einem wohlmeinenden „Du schaffst das schon“ haben die Bezugspersonen dem wenig entgegenzusetzen.

Mit diesem Thema hat sich Ann Kathrin Ast in ihrem neuen, 230 Seiten umfassenden Roman auseinandergesetzt, der bei Oktaven erschienen ist. Ast ist in Speyer geboren, lebt heute in Stuttgart. Nach einem Cello-Studium an der Musikhochschule Mannheim und einem Master in mündlicher Kommunikation/Rhetorik an der Universität Regensburg schreibt sie Lyrik und Prosa. Sie arbeitet als Literaturvermittlerin, Cello-Lehrerin, Cellistin und Autorin. Ihre Texte sind vielfach preisgekrönt. Auch der neue Roman, so viel sei vorweggenommen, wird vermutlich wieder einige Preise abräumen.

Für ihren Protagonisten Beat schafft sie eine komfortable Ausgangssituation. Er stammt aus wohlhabendem Elternhaus, hat ein eigenes Appartement im Studentenwohnheim, ein Auto und keine finanziellen Sorgen. Die Eltern haben ihm das ungewöhnliche Schlagzeug-Studium ermöglicht, das er auch eifrig absolviert hat. Sein Professor ist ihm gewogen, die Studienbedingungen wirken optimal. Nun gilt es eigentlich nur noch die Abschlussprüfung zu absolvieren, und es sieht nichts danach aus, als seien irgendwelche Schwierigkeiten zu erwarten. Das Gemeine an dieser Situation ist, dass man die plötzlich auftretenden Selbstzweifel, die Fragen nach dem Sinn des Studiums, nach den Zukunftsaussichten kaum der bevorstehenden Prüfung zuordnet, sondern sich plötzlich in einem Weltschmerz fühlt, der aus dem Nichts zu entstehen scheint. Wie leicht es einem jetzt erscheint, einen anderen Job anzunehmen, eine neue Karriere anzustreben. Der freie Fall beginnt. Die Begleitumstände wie die Abnabelung vom Elternhaus, die neue Liebe werden unwichtig, treten nur noch als nebensächliche Ereignisse auf. Bei Ast liest sich das wie ein Rausch, der die Wirklichkeit zunehmend zurückdrängt.

Man muss diesen Rausch, seine scheinbar pathologischen Züge als Leser gar nicht verstehen. Es ist auch gar nicht so wichtig, wie der Roman ausgeht. Wenn Lehrer, Ausbilder, Eltern und überdies die Auszubildenden selbst nach dem Genuss dieses Werks mehr Sensibilität für die Ängste vor der „alles entscheidenden“ Prüfung entwickeln, entsteht aus Belletristik Nutzwert.

Michael S. Zerban