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Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Improvisator und Sinfoniker

Im kommenden Jahr feiert die Musikwelt den 200. Geburtstag des österreichischen Komponisten Anton Bruckner. Neben vielen Aufführungen seiner Werke, vor allem in seiner Heimat, erscheint passend zum Jubiläum eine neue Biografie über Bruckner mit dem bezeichnenden Untertitel: Ein Leben mit Musik. Nun, dieser Untertitel könnte genauso auf Beethoven, Brahms oder Wagner passen, und doch verhält es sich bei Bruckner etwas anders. Es ist ein Leben voller Missverständnisse, Ablehnung, ja, sogar Anfeindung. Erst in seinen späten Lebensjahren erhält Bruckner die verdiente Anerkennung. Dennoch sind seine Werke bis heute umstritten und spalten Musikfreunde, wie man es sonst nur bei Richard Wagner kennt, zudem er ein ganz besonderes Verhältnis hat. Warum das alles so ist, das hat Felix Diergarten in seiner 244 Seiten umfassenden Biografie nüchtern, aber tiefgründig und sehr komplex analysiert. Diergarten, Jahrgang 1980, ist studierter Musiker, promovierter Musiktheoretiker und habilitierter Musikwissenschaftler. Nach Professuren an der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule für Musik Freiburg lehrt er heute Musikwissenschaft und Musiktheorie an der Musikhochschule Luzern. Neben dieser Biografie hat Diergarten zuvor den Werkführer Das Geistliche Werk Anton Bruckners publiziert.

Bei dieser Vita des Autors ist klar, Diergartens Herangehensweise ist die musikwissenschaftliche Analyse der Werke Bruckners unter Einbeziehung neuester Quellen und alter Aufzeichnungen. Über die Werke nähert sich Weingarten dem Menschen Bruckner und seinem komplizierten Lebenslauf. 572 Anmerkungen und ein 9 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis sprechen für eine sehr penible Recherche und Analyse der vorhandenen Quellen. Dazu kommen sehr viele Notenbeispiele, wenn Diergarten die Werke unter die Lupe nimmt, vergleicht und damit seine zum Teil völlig neuen Thesen zur Interpretation der Werke, vor allem der Sinfonien, untermauert. Das ist nicht nur eine immense Fleißarbeit, es verlangt auch vom Leser mindestens Grundkenntnisse der Musik, der Notenbilder und der Strukturen vom Aufbau der Werke, sonst wird es zäh, den ganzen musikwissenschaftlichen Analysen Diergartens zu folgen.

Das Geleitwort zum Buch hat kein Geringerer als Herbert Blomstedt geschrieben. Der mittlerweile 96-jährige Dirigent darf sicher als einer der führenden Bruckner-Experten bezeichnet werden. Er erzählt von seiner ersten Begegnung mit Bruckners 8. Sinfonie in Stockholm Anfang der 50-er Jahre, die Wiener Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler waren zu Gast. Eine großartige Darbietung, doch das schwedische Publikum war Bruckner nicht gewohnt und nahm die Aufführung sehr kühl auf. Das Erlebnis des jungen Blomstedt scheint symptomatisch für Bruckner sein. Doch in Blomstedt hat das Ereignis etwas ausgelöst, für ihn repräsentieren seine Sinfonien „die Sehnsucht nach dem Ewigen“.

„Als junger Mensch war es vor allem Bruckners zauberhafter Klang, der mich ansprach. Je mehr ich dann im Laufe meines Lebens Bruckners Musik studiert und aufgeführt habe, desto näher bin ich seiner Größe gekommen; je mehr ich von seiner Schaffensweise verstand, je größer wurde er für mich. Bruckners Werke sind von großem Intellekt getragen, aber wenn es erforderlich ist, kann er sich auch ganz einfach und kurz ausdrücken – das macht seine Musik so besonders“, schreibt Blomstedt über Bruckner. Blomstedt nimmt damit schon einen wichtigen Aspekt der neuen Biografie vorweg. Mit Bruckner, um ihn zu verstehen, um seine tiefgehende Musik zu ergründen, muss man sich intensiv mit ihm beschäftigen, und auch die Werke im Kontext zu seinem Leben sehen. Blomstedt schließt sein Geleitwort mit den Worten: „Das Buch enthält nicht nur überall Neues (selbst für einen mit Bruckner lange Vertrauten wie mich), es ist auch spannend und unterhaltsam geschrieben. Für Bruckner-Freunde, alte und neue, einfach ideal.“ Mit diesen Zeilen adelt der Maestro den wesentlich jüngeren Musikwissenschaftler, legt aber auch die Messlatte hoch.

Wer war nun dieser Anton Bruckner, um den es in der Biografie geht?

Geboren am 4. September 1824 im oberösterreichischen Ansfelden als ältestes von zwölf Kindern, kam Bruckner früh mit Musik in Kontakt. Als junger Mann machte er sich bereits als Orgelvirtuose einen Namen. Als Sohn des Dorfschullehrers von Ansfelden kam Bruckner schon früh mit Musik, insbesondere mit Kirchenmusik, in Berührung. Er lernte Violine, Klavier und Orgel und arbeitete bereits mit zehn Jahren als Aushilfsorganist. Nach dem frühen Tod des Vaters schickte ihn seine Mutter mit zwölf Jahren als Sängerknaben ins nahe Stift St. Florian, wo er beim Stiftsorganisten Orgelunterricht bekam. Zeit seines Lebens legte Bruckner sein Hauptaugenmerk auf das Komponieren und die improvisierte Orgelmusik – Bruckner stellte es sogar über die Pflichten seiner Lehrertätigkeit, der er später nachging. Neben den Verpflichtungen als Lehrer und Organist wurde von ihm erwartet, auch auf dem Feld und im Wald mit anzupacken.

Seine musikalische Weiterentwicklung verfolgte er jedoch mit Leidenschaft über mehr als 30 Jahre. Seine größte Leidenschaft galt aber dem Komponieren von Sinfonien, wobei er gerade dafür den Großteil seines Lebens um Anerkennung kämpfen musste. Wurden seine Kompositionen doch lange Zeit von der Wiener Hochkultur missverstanden und verschmäht. Anton Bruckner galt als eigensinniger und exzentrischer Einzelgänger vom Land. Im Alter von 31 Jahren wagte er den Schritt in die Welt der Berufsmusiker. Im Jahr 1855 bot sich ihm die Gelegenheit zu einem Probespiel für die Position des Domorganisten in Linz. Anfangs zögerte er, daran teilzunehmen, doch schlussendlich meisterte er das Vorspielen und sicherte sich die Anstellung. Im Jahr 1868 wurde seine erste Sinfonie im Linzer Redouten-Saal uraufgeführt, die vom Publikum und der Kritik freundlich aufgenommen wurde, was den späteren Sinfonien initial nicht vergönnt war. Animiert, seine Kompositionen einem größeren Publikum außerhalb der Provinz vorzustellen, verließ er im selben Jahr Linz und ging nach Wien.

Dort nahm er eine Stelle am Wiener Konservatorium als Professor für Musiktheorie und Orgelspiel an. Von nun an ging es aufwärts. Er wurde Hoforganist des Kaisers, komponierte fortwährend, lehrte viele Jahre am Konservatorium und feierte vor allem Erfolge als Orgelvirtuose. Das Publikum liebte sein Talent zur Improvisation. Er improvisierte auf den großen Orgeln der Kathedralen von Nancy und Paris, bei der Hochzeit der jüngsten Tochter von Kaiser Franz Joseph I. in Bad Ischl. Doch Bruckners Leidenschaft galt nicht dem Orgelspiel, sondern den Sinfonien, er selbst bezeichnete „Sinfoniker“ als seinen Lebensberuf. Doch die Sinfonie als Musikform galt zu der damaligen Zeit als abgeschlossen, als unangefochtener Standard wurden Ludwig van Beethovens Sinfonien angesehen. Auch die Wiener Philharmoniker verweigerten zu Lebzeiten die Aufführungen von Bruckners langen und technisch schwierigen Kompositionen. Bei einer Aufführung von Bruckners 3. Sinfonie im Wiener Musikverein verließ der Großteil des Publikums noch während der Vorstellung den Saal.

Bruckner war, wie viele andere Komponisten auch, einerseits seiner Zeit voraus, andererseits verfing er sich dann wieder in veralteten Strukturen. Aus Angst vor der Wiener Presse ließ Anton Bruckner seine Werke an Orten außerhalb Wiens aufführen. Einer der schärfsten Kritiker Bruckners war der Wiener Musikprofessor Eduard Hanslick, der auch einer der größten Gegner Richard Wagners war. Vielleicht war es die musikalische Nähe zu Wagner, die glühende, fast schon devote Verehrung des Bayreuther Meisters, dem er auch seine 3. Sinfonie widmete, die ihm immer mehr Anfeindungen brachten.

Erst im Alter von 60 Jahren, zwölf Jahre vor seinem Tod, gelang ihm mit der 7. Sinfonie der ersehnte große Durchbruch. Obwohl er sein Leben lang Anpassung ablehnte, sehnte sich Anton Bruckner dennoch nach Bestätigung und bat ständig um Empfehlungsschreiben. 1886 folgte dann sogar die Verleihung des Ritterkreuzes des Franz-Joseph-Ordens durch Kaiser Franz Joseph I. Der Kaiser finanzierte die Veröffentlichung seiner 3. und 8. Sinfonie und gewährte ihm ein Künstlerstipendium. Im Jahr 1895 erhielt Bruckner aufgrund seiner Gehbeschwerden vom Kaiser eine mietfreie ebenerdige Wohnung in einem Nebengebäude des Oberen Belvedere. Dort verbrachte er die letzten 15 Monate seines Lebens und arbeitete intensiv am Schlusssatz seiner 9. Sinfonie – die blieb jedoch unvollendet. Am 11. Oktober 1896 verstarb Anton Bruckner im Alter von 72 Jahren an Herzversagen. Gemäß seinem Testament wurde er unter der Orgel der Stiftskirche von St. Florian in Oberösterreich beerdigt.

Felix Diergarten geht in seiner Biografie streng chronologisch vor, unterteilt das Werk in vier große Teile mit insgesamt 25 Kapiteln. In seiner Einleitung spricht Diergarten über Bruckner-Bilder und beschreibt, wie Bruckner seine eigene Biografie in zehn Sätzen skizziert hat. Für Diergarten ergeben sich aus den bisher bekannten Quellen und Überlieferungen sechs klischeeartige Bilder, teils Vorurteile, teils Hypothesen, die er in dieser neuen Biografie einerseits bestätigen, andererseits aber auch teilweise widerlegen kann. „Bruckner, ein einfacher Mann vom Lande? Bruckner, ein unbeholfener Kauz? Bruckner, ein autoritätsgläubiger Untertan? Bruckner, ein bis zur Selbstverleugnung unsicherer und bescheidener Mensch? Bruckner, ein zu Lebzeiten Unverstandener, ein „verkanntes Genie“? Bruckner, ein „Musikant Gottes“? Solche Fragen beantwortet Diergarten nicht nur dezidiert, sie sind quasi der Leitfaden der Biografie. Doch müssen die Fragen und deren Antworten immer im Kontext zu Bruckners musikalischem Schaffen gesehen werden, was Diergarten auch sehr gut gelingt.

Er schließt seine Einleitung mit der Frage, ob Bruckners Werke „aus der Zeit gefallene Findlinge sind“ und bemüht dazu auch die Bruckner-Biografie von Karl Grebe aus den 1970-er Jahren. Laut Diergarten sind Bruckners Werke geprägt von den Lebenswelten des 19. Jahrhunderts, die er durchschritt: „vom oberösterreichischen Dorf über die wachsende Landeshauptstadt Linz in die Metropolen Europas; vom Dorfschulhaus über die Lehrerbildungsanstalt an das Konservatorium und die Universität; von der Dorfkirche über die Stiftsbasilika an den neugotischen Dom; vom kämpferischen Katholizismus eines Bischofs Rudigier zum Liberalismus des Unterrichtsministers Stremayr; von den fiedelnden Dorfmusikanten zu den Wiener Philharmonikern; von der Landmesse zur monumentalen Sinfonie.“ Mit diesen fünf markanten Sätzen hat Diergarten quasi die Lebensbiografie Bruckners zusammengefasst.

Jedes der chronologisch angeordneten Kapitel beleuchtet laut Diergarten eine Lebensphase, eine Begebenheit, einen Ort oder ein besonderes Thema der Biografie Anton Bruckners. Er exploriert dabei die Lebensbilder Bruckners so detailreich und anschaulich, dass die Betrachtungen tatsächlich erfahrbar machen, wie sich die Musik Anton Bruckners in dessen unterschiedliche Lebenswelten fügt und wie sie in deren Kontext verstanden werden kann. Dabei gibt Diergarten freimütig zu, dass bei allem Erklären, Beschreiben und Historisieren immer etwas „Unerklärliches, Rätselhaftes und Unaussprechliches bleibt.“ Aber ist das nicht das besondere an der Kunst, an der Musik, und nicht nur bei Bruckner, dass etwas Mystisches über allem schwebt? Das unterscheidet große Kunst von banalem Stückwerk.

Ein ganz besonderes Kapitel widmet Diergarten Bruckners Verhältnis zu Wagner und Bruckners 3. Sinfonie, über die die Wiener Zeitung am 17. Dezember 1877 schrieb: „Es ist ein ganz ungeheuerliches Werk, dessen Wagnisse und Seltsamkeiten sich nicht mit wenigen Worten charakterisieren lassen.“ Und der gefürchtete Kritiker Eduard Hanslick schrieb in seiner Rezension über die Uraufführung von Bruckners Dritten, sie sei „vielleicht eine Vision, wie Beethovens Neunte mit Wagners Walküren Freundschaft schließt und endlich unter die Hufe ihrer Pferde gerät.“ Bruckner war stets von diesen ablehnenden Kommentaren tief getroffen, und arbeitete daher fast alle seine Sinfonien teils mehrfach um, so dass es heute fast keine Aufnahmen gibt, die den Urzustand charakterisieren. Auch das ist ein Lebensbild Bruckners: die ständigen Selbstzweifel an sich und an seinen Werken.

Eine sehr schöne Abbildung zeigt Gustav Mahlers Klavierauszug von Bruckners 3. Sinfonie in D-Moll, Wagner gewidmet 1879. Wagner – Bruckner – Mahler, drei große Komponisten vereinigt auf dem Titelblatt eines Klavierauszuges, was für ein symbolträchtiges Bild.

Die Biografie Anton Bruckners ist eine Hommage an einen vielseitigen Komponisten und einem Meister der Romantik, die sein Gesamtkunstwerk zu seinem bevorstehenden 200. Geburtstag würdigt, aber vor allem wieder neugierig macht auf diese Musik, die vielen oft als zu wagnerisch oder zu kirchlich erschien. Dass das nicht so ist, ist sicher auch der Verdienst von Felix Diergarten, der den Menschen und Komponisten Anton Bruckner in einer musikwissenschaftlich tiefgründigen Form porträtiert hat. Es gibt viele neue Erkenntnisse, insbesondere über sein sinfonisches Schaffen. Es macht Sinn, das Gelesene nachzuhören, dann wird in der Tat vieles klarer. Sowohl Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker als auch Andris Nelsons und das Leipziger Gewandhausorchester haben kürzlich eine Einspielung aller Sinfonien Bruckners, einschließlich der so genannten „Nullten“ vorgelegt. Bei Nelsons Einspielungen kommt interessanterweise noch hinzu, dass die Aufnahmen mit Werken Wagners assoziiert sind. So ist auf der Einspielung der 3. Sinfonie, die Bruckner Wagner gewidmet hat, die Ouvertüre zu seiner Oper Tannhäuser zu hören. Eine mehr als reizvolle Kombination.

Für Bruckner-Freunde ist die Biografie sehr wertvoll, aber man muss sich für das Buch viel Zeit nehmen, genauso wie für Bruckners Werke. Eine perfekte Einstimmung auf das Bruckner-Jahr 2024.

Andreas H. Hölscher