O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Das Neusser Podium - Foto © O-Ton

Hintergründe

Erklärungsversuche

Noch kämpfen die Theater mit den Folgen der letzten finanziellen Kürzungswelle, aber es gibt Hoffnung. Denn viele Theater beginnen, ihre hermetisch abgeschlossenen Räume der scheinbar Glückseligen zu öffnen und in den Dialog mit der Politik und dem Publikum einzutreten. Jetzt hat das Rheinische Landestheater Neuss zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen. Und zeigt, woran es in der Kommunikation noch deutlich hapert. Eine Stellungnahme.

Gregor Sturm will sich den Politikern erklären – Foto © O-Ton

Das Theater ist der Ort gesellschaftlichen Diskurses, Erfahrungsraum der Demokratie und Bastion der Zivilgesellschaft. Gebetsmühlenartig immer wieder die gleichen Sprüche, wenn die Theater versuchen, sich gegen Kürzungen oder gar Schließungen zu wehren. Und völliges Unverständnis dafür, dass die Politik mit solchen Blasen überhaupt nichts anfangen konnte. Gesellschaftlichen Diskurs gibt es in den Talkshows im Fernsehen zur Genüge, Erfahrungsräume der Demokratie sind spätestens alle vier Jahre die Wahllokale und die Zivilgesellschaft braucht keine Bastionen, sondern gerade in der Kommune solide Haushalte. Überhaupt haben Politiker anderes zu tun, als sich am Abend ins Theater zu begeben, jenen Posten im Haushalt, der auch noch vollkommen missverständlich als „freiwillige Leistung“ einer Kommune ausgewiesen ist, also bei oberflächlicher oder besser unkundiger Betrachtung als erstes zu streichen ist. Das kommt noch hinter dem Sportplatz, der wenigstens der Volksgesundheit dient.

Gregor Sturm ist Bühnen- und Kostümbildner. Außerdem ist er Vorstandsmitglied beim Bund der Szenografen. Und vor zwei Jahren hatte er eine Idee. Oder genauer: zwei geniale Ideen. Anlässlich der Verabschiedung des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, das vor zwei Jahren die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft unter Schutz stellte, rief er die Aktion 40.000 Theatermitarbeiter treffen ihre Abgeordneten ins Leben. Und dafür holte er die Konferenz Konkret, das Ensemble-Netzwerk und die Dramaturgische Gesellschaft mit ins Boot. Außerdem sicherte sich der Bund der Szenografen die Unterstützung der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins. Die Aktion wurde ein Überraschungserfolg. Theatermitarbeiter luden „ihre“ Politiker ein, führten sie durch das Theater und trafen sich anschließend zu einer Podiumsdiskussion. Dort wurden die Politiker über die Arbeitsverhältnisse im Theater informiert. Die Überraschung war wohl die Reaktion der Politiker. Sie offenbarten nicht nur völlige Unkenntnis, sondern reagierten mit größtem Verständnis für die Situation im Theater.

Jetzt hat das Rheinische Landestheater Neuss die Veranstaltungsreihe fortgesetzt. Auch wenn die Resonanz auf die Einladung nicht so groß ausfiel, wie erwartet, geriet der vom Schauspieler Richard Lingscheidt sehr professionell organisierte Abend zum Erfolg. Zwar entfiel die Theater-Führung, dafür war die Riege der Redner hochkarätig besetzt. Der Journalist Stefan Keim moderierte souverän.

Falsche Entwicklungen

Im Vordergrund stehen Zahlen, Zahlen, Zahlen. Marc Grandmontagne ist Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins. Im Wesentlichen informiert er das Publikum darüber, dass die Zahl der Produktionen im Laufe der Jahre zugenommen, die Zahl der Besucher abgenommen hat. Für die Beschäftigten eines Theaters eine fatale Situation, müssen sie doch einen erheblich höheren Arbeitsaufwand leisten, ohne dass sich daraus für sie eine Verbesserung ihrer Beschäftigungsverhältnisse ergibt. Das weist Adil Laraki von der Gewerkschaft Deutscher Bühnenangestellter nach, wenn auch er mit Zahlen hantiert. So verdient ein Schauspieler 2.000 Euro brutto, während ein Bühnentechniker mit mehr als 3.000 Euro brutto bei geregelten Arbeitszeiten nach Hause geht. Solche Vergleiche dienen dem Sozialneid, sonst niemandem. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass es für einen Schauspieler im Sprechtheater kaum Sinnvolleres gibt, als sich möglichst oft im Theater aufzuhalten. In der Kantine gibt es preisgünstiges Essen, und wer sich nach draußen begibt, muss Geld ausgeben. Das sind schlicht prekäre Arbeitsverhältnisse, für die sich zumindest jedes Stadttheater schämen müsste; auch dann, wenn es den tariflich vorgeschriebenen Mindestlohn zahlt, also „im Recht“ ist. Übrigens sind solche Löhne auch für Opernsänger keine Seltenheit. Erschreckender noch die Schilderungen von Sturm selbst, der von der Unbill im Leben des Freiberuflers berichtet.

Aber was sollen solche Zahlenspiele, die jeden besserverdienenden Kommunalpolitiker kaum interessieren? Stephanie Schönfeld, schwangere Schauspielerin im Essener Ensemble und Mitglied im Ensemble-Netzwerk, versucht es mit einer Bestandsaufnahme und einem Rückblick. Das ist eindrucksvoll, langatmig und streckenweise sentimental. Harald Wolff, Vorstandsmitglied der Dramaturgischen Gesellschaft, schwelgt ebenfalls in Erinnerungen. Und endlich berichtet Hildegard Kaluza aus dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft von den bevorstehenden Geldausschüttungen. Da geht es verstärkt wieder um Zahlen. Das Theater ist in der Falle des Kapitalismus angekommen.

Anstatt über Produktionen und darüber zu berichten, wie sie den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen, warum eigentlich die Schauspieler für Toleranz und Vielfalt eintreten, wird im eigenen Saft gebadet. Wo ist die Leidenschaft, die Utopie, die Vision, die Auseinandersetzung? All das, was die Besucher und die Politiker bewegen könnte? Nichts davon ist zu spüren in dieser „Diskussion“. Das Rheinische Landestheater Neuss verfügt über Schauspieler, die in der Lage sind, die Besucher an ihrer Knochenhaut zu erreichen. Und wer schon einmal einen Tritt vor das Schienbein bekommen hat, weiß, was damit gemeint ist.  Aber wenn sie über ihre eigene Situation reden sollen, verziehen sie sich in Scheingefechte ums Geld. So sehr nachvollziehbar ist, wie bedrückend und ungerecht ein Einkommen ist, das hinten und vorne nicht zum Leben reicht, so wenig erklärt das die Notwendigkeit von Theater.

Interner Dialog so nötig wie die Öffnung nach außen

Bettina Jahnke sieht die Notwendigkeit zum internen Dialog – Foto © O-Ton

Die Missstände an Theatern – und davon gibt es viele, da ist die #metoo-Diskussion nur ein Bruchteil – gehören behoben, aber sie sind Bestandteil eines dringend notwendigen inneren Dialoges. Wie groß das ehrliche Entsetzen von Intendantin Bettina Jahnke, als sie plötzlich feststellen musste, dass sich ein Theater längst nicht mehr deutlich gegen rechts positionieren kann; weil die rechtsgerichtete Gesinnung schon im Theater Fuß gefasst hat. Deutlicher kann die Notwendigkeit des inneren Dialogs nicht werden. Aber das ist nicht die Diskussion, die mit der Öffentlichkeit respektive der Politik zu führen ist.

Gibt es etwas Schlimmeres für ein Theater, wenn die Kritik in der lokalen Tagespresse zu einer Premiere vermerkt, dass es sich um ein Stück „mit hohem Unterhaltungswert“ handele? In der systemanalogen Denkweise ein wunderbares Kompliment. Manches Belegtheater freut sich wie Bolle, wenn es solche Kritiken bekommt. In Wahrheit kann es kaum eine schlimmere Bankrotterklärung geben. Das Theater reiht sich in das Eventisierungssystem ein. Zugegeben, das politische Theater in seinen Anfängen war eine Qual. Die Mitbestimmungsmodelle in den Theatern jener Zeit sind noch manchem Schauspieler mit größtem Schrecken im Gedächtnis. Aber selten gab es Zeiten, in denen das Theater eine größere Daseinsberechtigung hatte. Nie war Theater lebendiger und mühsamer. Inzwischen sind die radikalen Umbrüche intelligenteren Ausdrucksformen gewichen – wenn auch selten. So mancher Intendant lässt sich nur allzu gern darauf ein, dem Publikum mit „guter Unterhaltung“ zu dienen, denn das bringt eine kurzfristige Erhöhung der Besucherzahlen, keine Kritik und gute Mienen im Stadtrat. Die Opernhäuser machen es gerade vor, wenn sie verstärkt wieder auf den vielbeschworenen Kanon zurückgreifen. Da wird die comichafte Inszenierung einer Zauberflöte zum Publikumsrenner, und der Intendant fasst sich selbstverliebt an die stolzgeschwellte Brust. Tatsächlich wird sich dieser scheinbare Erfolg langfristig rächen. Und erste Anzeichen gibt es bereits. Die Lust zum Lachen hat im Publikum mitunter schon groteske Züge erreicht. Und das ist nicht lustig.

Theater als Unterhaltungsfaktor

Theater in allen Erscheinungsformen kann sich in der Unterhaltungsindustrie nicht behaupten. Wer Unterhaltung sucht, sitzt vor dem Fernseher, vor dem Computer-Monitor oder in Stadthallen. Wozu gibt es also Theater? Die Frage drängt. Und 40.000 Theatermitarbeiter sind aufgerufen, sie zu beantworten. Dazu hat sie Gregor Sturm motiviert. Jetzt ist es auch an ihm, den öffentlichen Diskurs in die gewünschte Richtung zu lenken. Den Politikern nicht vorzujammern, dass die Ensembles ständig kleiner werden, wie es Laraki nachgewiesen hat, sondern ihnen zu erklären, warum intelligente Menschen auch heute noch in Scharen Schauspieler werden wollen. Vielleicht ist das Theater der Gegenentwurf zu einem System, das sich selbst gerade ad absurdum führt. Und das wäre doch großartig.

In Neuss fühlen sich an diesem Abend alle sehr wohl. Was die Verpflegung und die Stimmung angeht, haben sie sicher Recht. Bei allem anderen müssen sie sich noch ein paar Gedanken machen. Und die Veranstaltungen dieser Art unbedingt fortsetzen. Das fand übrigens auch Michael Ziege, Kulturausschussvorsitzender der Stadt Neuss. Der war als Politiker vor Ort. Immerhin.

Michael S. Zerban