O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Trondheim Voices - Foto © O-Ton

Hintergründe

Unterwegs im Synapsenraum

Die Welt bietet so viel mehr als nur den Viervierteltakt der Unterhaltungsindustrie. Es tut gut, dass man beim Moers-Festival dieser Erkenntnis nirgendwo ausweichen kann. Die 52. Ausgabe setzt jenes Konzept fort, das im letzten Jahr Premiere hatte. Auf drei verschiedenen Bühnen geben über 100 Konzerte ganz unterschiedliche ästhetische und emotionale Anknüpfungspunkte. Die hohe Kunst lebt ihr in einer stimmigen Gesamtdramaturgie, die gar keine Anhäufung von großen Namen braucht.

Günther Baby Sommer – Foto © O-Ton

Der ungarische Komponist Györgi Ligeti, der am 28. Mai 100 Jahre alt geworden wäre, ist der Jubilar des Jahres im internationalen Musikleben. Wenn sich nun Moers in Richtung „Hochkultur“ verneigt, dann geschieht so etwas aus dem produktiven Blickwinkel des Festivals. Hier geht es um ein vitales Spannungsfeld zwischen komponierten Ideen eines großen Meisters und einer herrschaftsfrei wuchernden Fantasie aller Teilnehmer bei mehreren aufwändigen Projekten, die das Moers-Festival zu diesem Thema aufbietet. Wer hier „Werktreue“ erwartet, wird enttäuscht. Dafür sitzt man in der ersten Reihe, um bei der Entstehung von Unberechenbarem dabei zu sein.

Ein schillerndes Klangpanorama erzeugt eine handverlesene Großbesetzung in der Auftragskomposition Music from Kylwiria. Benannt ist das zugrunde liegende Ligeti-Werk nach jenem Utopia, das der ungarische Komponist in seiner Kindheit ersann und das nur zu gut auf den – immer wieder neu und verspielt inszenierten – Festivalgeist passt. Unter Federführung des jungen Geigers Lukas Döhler überzeugt auch das Nachwuchsprojekt Le Petit Macabre mit Musikschülern aus NRW, die wiederum die fabelhaft interagierenden Silke Eberhard am Saxofon, Eddy Kwon an der Geige und Ethan Iverson am Piano in ihre Mitte nehmen. Auch das Vokalensemble des SWR ist in großer Besetzung nach Moers eingeladen worden. Die Präzision, mit der es Ligetis Vocal-Clustern auf zwei sehr unterschiedlichen Auftritten Kontur geben, ist schlichtweg Weltklasse.

Wie kompromisslos „Chormusik“ in kühne Avantgarde abzuheben in der Lage ist, beweisen zurzeit die Trondheim Voices wie wohl kaum ein anderes Gesangsensemble auf diesem Planeten. Die Norwegerinnen heben in eine Klangwelt ab, die schließlich, elektronisch unterstützt im Abstrakten und Geräuschhaften aufgeht, wo neben Ligeti-Elementen auch frühmittelalterlich anmutende Skalen, Anleihen an rätselhafte Volksmusik-Traditionen und viele bizarre Spiritualität Pate stehen. Viel zu viel unruhiges Kommen und Gehen in der Festivalhalle behindert etwas die Versenkung in das Erlebnis. Das Late-Night-Konzert in der Evangelischen Stadtkirche ist hier eindeutig die bessere Wahl.

Neptunian Maximalism – Foto © O-Ton

„This it not a jazzfestival“ lautete im letzten Jahr das Motto. Aber ist das wirklich so? Vielleicht entsteht Jazz, verstanden als universelle Haltung von Improvisation und kultureller Toleranz gerade dann, wenn das Wort mit den vier Buchstaben als einengende Schablone wegfällt. Weil sich dann die Dinge wieder aneinander reiben können. Vor allem gibt der feierfreudige soziale Kosmos einer Open-Air-Bühne zur blauen Stunde der Musik viel Luft zum Atmen. Günther „Baby“ Sommers Brother- and Systerhood klingt genauso, wie das neue Projekt heißt. Der aus Dresden stammende Schlagzeuger ist mit fast 80 Jahren ein unermüdlicher Ideengeber und Menschenfänger. Hier skandiert er, als sei es ein Rap, die Lautpoesie des Dadaisten Hugo Ball, die einem seiner aktuellen Stücke mit dem Titel Karawane zu Grunde liegt. Das gute Dutzend Musiker, die einen Querschnitt der deutschen Jazzszene ausmachen, und ebenso ihr Publikum steigen in all das und noch viel mehr dankbar ein. Auch der Vibrafonist David Friedmann reicht ein Erbe weiter: In diesem Fall trifft er auf Jim Hart, einen viel jüngeren Kollegen am Instrument, der gerade in aller Munde und auf allen Bühnen Berge versetzt. Befeuert wird die freie Improvisations-Begegnung der beiden Mallet-Spezialisten vom mächtig aufspielenden Schlagzeuger Drori Mondlak.

Was das Festival seit letztem Jahr wieder als elementaren Ort für improvisierte Musik ganz besonders „erdet“, ist die „Annex-Bühne“, die letztes Jahr ins Leben gerufen wurde: Umgeben von den nüchternen Betonwänden eines Gymnasiums, fördert hier ein perfektes Atrium die Symbiose zwischen improvisierenden Musikern und konzentriert lauschendem Publikum. Hier die kuratorische Verantwortung an die beteiligten Bands und Projekte abzugeben, ist wiederum ein schöpferischer Akt, um Befreites zu fördern. Überwältigendes, Elementares, Forschendes passiert hier vier Tage: Was für eine Intensität entsteht im Zusammenspiel zwischen dem kraftvollen Schlagzeuger Simon Camatta, der geräuschverliebten Gitarristin Raissa Mehner und der perkussiv zu Werke gehenden Vibrafonistin Salome Amend. Das rockt zuweilen mächtig, lässt aber auch feinsinnige Geräusch-Symbiosen entstehen. Kammermusikalische Versenkung entsteht, wenn sich Gebhard Ullmann mit einer Cellistin und einem Kontrabassisten vereint. Musik und tiefe Andacht beim Hören. In Echtzeit, ohne Filter. Zahllose Menschen reisen aus aller Welt hierhin, eben weil sie darauf vertrauen, dass hier das Besondere stattfindet und das Beliebige draußen bleibt.

Faszinierende Tastenkunst bietet der Finne Aki Rissanen auf einem elektronisch aufgemotzten Cembalo plus Loopstation. So originell sind wohl noch nie Improvisationen im barocken Stil auf Ambient-Texturen geprallt. Gavin Bryar, ein mittlerweile 80-jähriger, britischer Gentleman taucht mit einem eigenen Ensemble seine Zuhörerschaft in einen menschlich wärmenden Soundtrack, gipfelnd in einer Endlosschleife, in der alle Instrumente über ein in den 1970-er Jahren aufgenommenes Lied von einem namenlosen, umherreisenden Tramp meditieren. Ein berührendes Eintauchen in globale Musikkultur fordert das iranische Tember-Ensemble heraus, bei dem Arabesken und Klangflächen von Flöte, Santur nebst dezenter Live-Elektronik ein ergreifendes Gewebe in die Festivalhalle zaubern. Kommend aus einem Land mit großartiger Hochkultur, dessen aktuelles Regime sich aber vor allem um Freiheitsvernichtung „verdient“ macht, aber Menschen dagegen aufstehen und ermutigt gehören.

Jookloo-Duo – Foto © Marion Kainz

Eine aufregende Säule im Programm von Moers markieren mittlerweile jene Bands vor allem aus dem frankobelgischen Raum, die aus dem dortigen Progressive-Rock-Freejazz-Spektrum schöpfen und wo Musikmachen auch immer etwas mit Dreck unter den Fingernägeln zu tun hat. Zaäar, der Name dieser belgischen Band klingt schon danach, als trüge er „kobayanische“ Wurzeln in sich – so nennt die stilprägende französische Progrock-Band Magma ihre Kunstsprache, in der konsequent gesungen wird. Und ja: In Sachen wucherndem Exotismus, lässiger Krautrock- Psychedelik gepaart mit kühner Jazz-Akrobatik lassen die Belgier solide die Luft brennen. Ebenso ist auf die frankobelgische Band Neptunian Maximalism Verlass, wenn sie ihr Publikum mit einem gitarrenlastigen Wall of Sound narkotisiert. Ein rauschhaftes Finale für eines der freudvollsten, harmonisch ausgewogensten Moers-Festivals in seiner ganzen langen Historie!

Früher vibrierte einmal im Jahr fünf Tage und Nächte der gesamte Park in einer Riesenparty rund um die Uhr. Seit vielen Jahren herrscht nachts Friedhofsruhe, was immer noch etwas befremdlich anmutet für alle, die das Moers von früher als kollektiven Bewussteins(erweiterungs)zustand mitgemacht haben. Durch einen kurzfristigen Gerichtsbeschluss hatten die Stille-Freaks der niederrheinischen Kleinstadt dieses Mal in letzter Minute aushandeln können, dass es noch eine Stunde früher keine Musik und kein Bier mehr geben solle. Nur wenige Stunden vor Beginn eines Großereignisses mit weit über 100 Konzerten hat bei solchen Schnellschüssen ganz klar der Veranstalter das Nachsehen: Die Mehrarbeit, um kurz vor Beginn des Konzertmarathons nochmal den ganzen engen Zeitplan umstricken zu müssen, haben die Entscheider in den Behörden und deren Anhängerschaft vermutlich nicht im Blick. Heute lebt beim Moers-Festival die hohe Kunst, das Beste aus solchen Situationen zu machen: Auf dem Rodelberg wird ein kleines Lagerfeuer entzündet – und tatsächlich steht jetzt ein Flügel dort, wo früher bis zum Hellwerden die Djemben wummerten. Jetzt rücken hier alle zusammen, lassen sich vom leisen Pianojazz aus den Fingern von Ethan Iverson zum Runterkommen die Seele streicheln. Wieder einer dieser besonderen, singulären Momente, die es nur hier zu geben scheint …

Viel lauter und bunter ist es dort zugegangen, „wo die wilden Kinder“ wohnen. Musiker wie Bart Maris oder auch das furiose Jookloo-Duo aus Italien reichen bei diesem Projekt ihre Instrumente an die Allerjüngsten zum Ausprobieren weiter, die sich frei fühlen, alles auszuprobieren. Gut so, wenn daraus junge Menschen hervorgehen, die so früh wie möglich für den Mainstream verloren sind.

Stefan Pieper