O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Pedro Pauwels - Foto © O-Ton

Hintergründe

Den Schlüssel mitliefern

So ein Branchentreff wie die Internationale Tanzmesse NRW ist wichtig für die Vermarktung der eigenen Produktionen. Deshalb haben sich die Teilnehmer an dem EU-Projekt Dance Highways entschieden, ihre Abschlussveranstaltung in den Zeitraum der Messe in Düsseldorf zu legen. Im Theater der Klänge beschäftigte sich das Projekt mit einem Thema, das für das Publikum sicher interessanter sein dürfte als die Werbeveranstaltung in der Innenstadt. Zwei Jahre lang ging es auf europäischer Ebene um die Kulturvermittlung für den zeitgenössischen Tanz.

Laura Vilain – Foto © O-Ton

Um die 20 Personen sind nach Düsseldorf gekommen, um die Internationale Tanzmesse NRW zu besuchen. Tatsächlich ist das aber nur ein netter Nebeneffekt. Viel wichtiger ist der eigentliche Anlass ihres Besuchs. Das EU-Projekt Dance Highways kommt nach zwei Jahren zum Abschluss. Tänzer, Choreografen und Manager aus Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Polen und Norwegen trafen sich in dem Zeitraum immer wieder, um ein existenzielles Thema des zeitgenössischen Tanzes zu erörtern. Wie muss die Kulturvermittlung für den künstlerischen Teilbereich aussehen? Zwei Positionen stehen sich hier scheinbar unauflöslich gegenüber. Da gibt es die Vertreter, die daran festhalten, dass die Kunst frei zur Interpretation bleiben müsse und sich nähere Erläuterungen zum gezeigten Tanz verböten. Was bei dieser Auffassung nicht berücksichtigt wird, ist der unterhaltsame Anteil des zeitgenössischen Tanzes. Bekommt das Publikum keinen Schlüssel mitgeliefert, verliert es die Lust am Gezeigten. Die Befürworter einer weitergehenden Kulturvermittlung pochen eben auf diesen Umstand. Wer das Publikum für den Tanz nachhaltig begeistern will, muss ihm sagen, was es zu sehen bekommt. Über die Wege der Vermittlung kann man dann immer noch diskutieren. Ob es etwa die separate Einführung, die kurze Ansage vor der Aufführung oder das Programmheft sind, ist dabei eher nachrangig. Die in Deutschland immer gängigere Praxis, die Zuschauer mit einem „theoretischen Überbau“ im Abendzettel zu überfrachten, erweist sich mehr und mehr eher als abschreckendes Instrument. In diesem Spannungsfeld haben die Projektbeteiligten in Diskussionen und praktischen Übungen versucht, einer Lösung näherzukommen, die vor allem die Begeisterung des Publikums nachhaltig steigern kann. Dabei waren sich die Beteiligten nicht von Anfang an klar darüber, dass sie über „Messers Schneide“ reden. Kulturangebote rutschen in der Rangliste bürgerlicher Bedürfnisse gerade ganz nach unten durch. Plakativ formuliert: Theaterabonnement oder Tankfüllung? Und wenn neben der Tankfüllung noch ein Netflix- oder Disney-Abo drin ist, wird es kritisch.

Praxisbeispiele ohne Erläuterung

Richard Adossou – Foto © O-Ton

Das Ergebnis der zwei Jahre des EU-Projekts ist ernüchternd. Wie gewohnt, findet auch in Düsseldorf neben Arbeitstreffen und Diskussionsrunden – und natürlich Besuchen der Tanzmesse – ein kleines Rahmenprogramm statt, diesmal eben im Studio des Theaters der Klänge. Da wurden am ersten Abend die Ergebnisse eines Arbeitstreffens gezeigt, am nächsten präsentierte das Theater der Klänge einen Ausschnitt seiner Arbeit und am vorletzten Tag zeigen die Franzosen und Italiener beispielhafte Choreografien. Der Besuch der französischen Aufführung soll, wie für die Arbeit des Projekts Dance Highways typisch, Aufschluss über die Ästhetiken der Compagnien und die praktische Umsetzung geben. Ursprünglich geplant ist eine kurze Schau von etwa einer Dreiviertelstunde. Darüber setzen sich die Franzosen glücklicherweise hinweg und zeigen komplette Choreografien.

Den Anfang macht Pedro Pauwels, Verfechter des erklärungsfreien Tanzes, der unter dem Titel Playlist gleich vier verschiedene Choreografien mit Musik aus den 1980-er Jahren zeigt. Jean Gaudin, Aïcha M’Barek, Hafiz Daou und Sylvain Groud haben die Tänze entwickelt. Von der körperlichen Selbstentäußerung über den Mitmach-Teil, bei dem die Zuschauer am Platz Arme und Beine schwenken sollen, bis zum Disco-Tanz, zu dem er das Publikum auf die Bühne bittet, reicht das Spektrum. Abgelöst wird er von Richard Adossou, der minutenlang seine eigene Choreografie Je ne sais plus – ich weiß nicht mehr – zu Musik aus seinem Heimatland Benin zeigt, bei der Armbewegungen im Vordergrund stehen. Bei wenigen Schritten zeigt sich leichte Unsicherheit, was aber am Vormittag durchaus entschuldbar ist.

Celles ci – diese – ist der Titel der Choreografie von Jackie Taffanel, die von Daria Besson und Adelita Renaudin aufgeführt wird. Wie schon Pauwels und Adossou haben auch sie keine Angst, zum Tanz zu singen. Vom Band werden hier erst nur Geräusche abgespielt, später die Gesänge der Tänzerinnen wiederholt. Fabien Vilain und Zoé Keating liefern die musikalischen Grundlagen für etwas, was man mit „Sie küssten und sie schlugen sich“ beschreiben möchte. Liebevolle Annäherungen wechseln in rasanter Folge mit feindlicher Auseinandersetzung. Den Abschluss des gut anderthalbstündigen Vortrags gibt Laura Vilain mit der Choreografie J’irai, je n’irai pas – ich werde gehen, ich werde nicht gehen – die ebenfalls von Taffanel stammt. Dabei fliegen die rotblond gefärbten, langen Haare im Vordergrund, während sie zur Musik von Keating einen Text von Jean Tardieu vertanzt, der anschließend auch an das Publikum verteilt wird.

Die Vorstellung, man käme aus dieser Aufführung mit mindestens vier Zetteln, auf denen es Erläuterungen zu den Choreografien gäbe, die man versteht, läuft ins Leere. Und so entsteht der Effekt der Unkontrollierbarkeit. Entscheiden darf der Zuschauer darüber, ob ihm die Bewegungssprache gefallen hat, ohne zu verstehen, was die Tänzer zeigen wollten. Das hinterlässt ein schales Gefühl. Einen Lamborghini zu fahren, ist ziemlich rückenschädigend und bei einer innerstädtischen Fahrt mit 50 Stundenkilometern ausgesprochen langweilig, solange man nicht weiß, was da eigentlich unter der Motorhaube kocht. Erst das Wissen um die technischen Raffinessen sorgt dafür, dass Menschen weit über 100.000 Euro für ein solches Gefährt ausgeben. Man könnte auch, um beim zeitgenössischen Tanz zu bleiben, fragen: Wie lange kann man schweigen, bis man nicht mehr gehört wird?

Jörg Udo Lensing, künstlerischer Leiter des Theaters der Klänge, ist sich der Brisanz durchaus bewusst und arbeitet bereits an einem Folgeprojekt. Auf europäischer Ebene, weil die Gunst des Publikums nicht nur in Deutschland in Gefahr ist.

Michael S. Zerban