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Hintergründe

Erhaltung des immateriellen Kulturerbes

In einem offenen Brief fordert die Generalmusikdirektoren- und Chefdirigentenkonferenz als Mitglied des Deutschen Musikrats Staatsministerin Monika Grütters und die Ministerpräsendeten auf, klare Vorgaben für „eine schrittweise Wiederaufnahme des Opern- und Konzertbetriebes in Übereinstimmung mit den derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen und den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts“ zu nennen. Marcus Bosch, Vorsitzender des Vereins, war Generalmusikdirektor in Aachen und Nürnberg, leitet eine Dirigentenklasse an der Musikhochschule München und hat in diesem Jahr die von ihm geleiteten Opernfestspiele seiner Geburtsstadt Heidenheim absagen müssen.

Marcus Bosch – Foto © Ulf Krentz

Piedro Obiera: Seit zwei Jahren bemüht sich die Bundesrepublik Deutschland um die Anerkennung unserer einzigartigen Theater- und Orchesterlandschaft als „immaterielles Kulturerbe der UNESCO“. Derzeit sieht es so aus, als wenn die Theater und Konzerthäuser ihre Pforten als Letzte der Krise öffnen dürfen. Herr Bosch, fühlen Sie sich als Kulturschaffender von der Regierung abgehängt?

Marcus Bosch: So hart würde ich es nie formulieren. Wir sind uns der allgemein schwierigen Lage bewusst. Fest steht aber: Wir wollen wieder spielen und sind auf Vorgaben angewiesen, um den Spielbetrieb so schnell wie möglich ankurbeln zu können. Und ein Spielbetrieb ist mit eingeschränkten Möglichkeiten auch unter den aktuellen Bedingungen realisierbar.

Obiera: Als Vorsitzender der Generalmusikdirektoren- und Chefdirigentenkonferenz vertreten Sie die Interessen der großen Kulturorchester und Opernhäuser. Können Sie sich denn angesichts der derzeitigen Abstands-, Hygiene- und Mundschutzregeln in absehbarer Zeit eine Wagner-Oper mit großem Orchester, Chor und einem voll aussingenden Gesangsensemble vorstellen?

Bosch: Was Opern angeht, bereitet der Chor die größten Probleme, um die hygienischen Anforderungen zu erfüllen. Das Orchester weit weniger, sowohl was den Atemausstoß angeht, selbst bei den Bläsern, als auch der Abstand. Und wenn es im Orchestergraben zu eng werden sollte, kann man selbst für Wagner auf reduzierte Besetzungen zurückgreifen. Aber Wagner muss es in den nächsten Monaten ja nicht sein. Es gibt eine Reihe von kleiner besetzten Werken, unter anderem Kostbarkeiten aus dem Barock und der Klassik, die problemlos aufgeführt werden könnten. Auch konzertante Aufführungen wären möglich.

Obiera: Befürchten Sie nicht, dass das Angebot dadurch an Attraktivität verliert?

Bosch: Das hängt davon ab, wie groß der Hunger nach einem Live-Erlebnis ist. Ich bin überzeugt, dass die Menschen nach der monatelangen Durststrecke jeden Ton genießen werden, so dass uns die Besucher treu bleiben werden.  

Obiera: Ein beträchtlicher Teil des traditionellen Konzert- und Opernpublikums gehört altersmäßig zu den so genannten Risikogruppen. Glauben Sie, dass die Corona-Krise älteres Publikum auch längerfristig vom Besuch der Konzerte und Opern abhalten könnte?

Bosch: Das hängt von der Befindlichkeit ab, mit der jeder einzelne die Krise und die damit verbundenen Risiken wahr nimmt, beziehungsweise wie lange bestimmte Ängste bei ihm nachwirken. Das kann ich natürlich nicht abschätzen. Aber die Situation ist doch beherrschbar. Es ist eine Frage der Kommunikation, um übertriebene Ängste ausräumen zu können. Ich kann mir auch so genannte Hybrid-Konzerte als neues Format vorstellen. Also Live-Konzerte, die persönlich besucht werden können, aber auch zeitgleich im Internet übertragen werden, so dass skeptische Besucher die Konzerte zu Hause genießen können. Die meisten dürfte aber das Live-Erlebnis genauso glücklich stimmen wie Großeltern, die endlich ihre Enkel wieder in die Arme nehmen dürfen.

Obiera: Der Kontakt zu jungen Menschen, dem viel gepriesenen Publikum von morgen, ist derzeit auch weitgehend abgeschnitten. Die Schulen sind mit Abschlussprüfungen und Kernfächern vollauf beschäftigt, die Musikschulen geschlossen, die Kinder- und Jugendarbeit der Theater und Orchester ist ausgesetzt. Lassen sich die dadurch entstehenden Defizite überhaupt wieder ausgleichen?

Bosch: Auf diesem Gebiet ist ein ungeheurer Kreativitätsdruck bei den jungen Leuten entstanden. Da bin ich zuversichtlich, dass die äußerst engagierten Theater- und Konzertpädagogen der Theater und Orchester dieses Bedürfnis mit ihren Live-Angeboten und Mitmach-Projekten befriedigen können. Ich gehe auch davon aus, dass neue, möglicherweise digitale Formate gefunden werden, mit denen weitere Interessenten angesprochen werden können.

Obiera: Der Bestand der subventionierten Orchester und Theater ist einigermaßen gesichert. Sind nicht gerade diese Institutionen verpflichtet, den vielen freiberuflichen Sängern und Instrumentalisten unter die Arme zu greifen, die extrem existenzbedroht sind?

Bosch: Auch da fordern wir eine wirksame Unterstützung der Künstler, auf die auch die subventionierten Orchester angewiesen sind, wenn es um groß besetzte Werke geht, die die Kapazitäten der Stammbesetzung überschreiten. Da muss ich Danke sagen, dass sich politisch auf allen Ebenen einiges bewegt hat. Auch wenn die Maßnahmen nicht reichen. Da gibt es den freiberuflichen Dirigenten, der Spargel sticht und den unterrichtenden Geiger, dem die Schüler wegbrechen. Bei den Sängern scheinen sich Lösungen für Ausfallhonorare abzuzeichnen. Wieweit die Kommunen da mitspielen, wird sich zeigen.

Obiera: Wann rechnen Sie mit einer Wagner-Aufführung in gewohntem Rahmen?

Bosch: Da muss ich in die Glaskugel blicken. Ich kann nur wünschen, dass möglichst schnell ein Medikament und ein Impfstoff gefunden werden. Derzeit würde ich mich glücklich schätzen, wenn im nächsten Jahr die Bayreuther Festspiele im Normalbetrieb stattfinden könnten. Sorgen bereitet mir allerdings, dass die Kultur in den meisten Bundesländern zu den „freiwilligen Aufgaben“ der Kommunen gehört, die angesichts der aktuellen und zukünftigen finanziellen Herausforderungen zuerst beschnitten werden können.