O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Budapest-Festival

Tourismus trifft Klassik

Das Budapest-Festival, das seit vielen Jahren im Concertgebouw stattfindet, ist Bestandteil der Kampagne Bruges? Sounds great!, mit der die Tourismus-Verantwortlichen der belgischen Stadt Brügge ihrer erfolgreichen Arbeit eine weitere Fassette hinzufügen wollen. Eine Idee, an der sich auch andere Städte ein Beispiel nehmen können.

Emanuel Ax – Foto © O-Ton

Mein Sehnen, mein Wähnen: So lautet der Titel einer der beiden berühmten Arien aus Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt, die das „Brünner Wunderkind“ in Brügge spielen ließ. Wirklich möchte man sich in die rund 120.000 Einwohner umfassende Stadt in der belgischen Provinz Westflandern auf Anhieb verlieben, wenn man durch die kopfsteingepflasterten Gassen und Straßen wandert und dank der historischen Architektur in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt glaubt. An einem Samstagvormittag, noch dazu bei gutem Wetter, spürt man das einstige pulsierende Leben der Stadt, die im Mittelalter zu einer der reichsten Metropolen Europas gehörte. Längst sind Handelsleute, die damals den Stadtkern bevölkerten, durch Touristengruppen ausgetauscht. In Scharen stehen sie auf dem großen Markt, kaum ein Winkel der Stadt, in dem sie einem nicht entgegenkommen. Niederländer, Deutsche, Franzosen und Engländer bilden den Hauptanteil der internationalen Gästeschar, die so gern die mittelalterlichen Fassaden bestaunt und sich dank zahlreicher Stadtführer die Zeit vermitteln lässt, in der die Herzöge von Burgund die Geschicke der Stadt so erfolgreich lenkten.

Den Tourismus-Verantwortlichen der Stadt reicht diese Form der Auseinandersetzung mit der Kultur nicht. Schließlich kann Brügge auf eine lange musikalische Tradition zurückblicken. Bereits im Mittelalter erlangten die flämischen Komponisten mit ihrer Polyphonie Berühmtheit. Und bis heute sind die Stadtoberen stolz darauf, alljährlich eine große Bandbreite klassischer Musik anbieten zu können. Mit der Kampagne Bruges? Sounds great! soll nun dieses Angebot auch im Bewusstsein der Besucher verankert werden. Im Touristiker-Deutsch soll Brügge also als „internationale Topdestination für Liebhaber von Kultur und Musik“ präsentiert werden. Dazu hat die Stadt sich starke Partner ins Boot geholt. Basis aller Bemühungen ist das Concertgebouw. Am 20. Februar 2002 wurde die Konzerthalle in Gegenwart des belgischen Königspaares eröffnet. Damit begann gleichzeitig das Jahr für die Kulturhauptstadt Brügge. Um 20.02 Uhr jenes Abends erhob Jos van Immerseel den Taktstock, um mit seinem Orchester Anima Eterna die Schöpfung von Joseph Haydn aufzuführen. Es wurde der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, denn bis heute ist Anima Eterna das Residenzorchester des Concertgebouw – und damit selbstverständlich auch Partner der Kampagne. Dazu gesellen sich verschiedene Festivals. Eine solche Vernetzung ist beispiellos, aber nachahmenswert. Und so findet im Mai nicht nur auf dem neugestalteten Platz ´t Zand vor der Konzerthalle die Kirmes, sondern auch im Gebäude das dreitägige Budapest-Festival statt.

Höchste Qualität für Brügge

Iván Fischer – Foto © O-Ton

Iván Fischer, geboren 1951 in Budapest, wurde wie sein Vater Sandor Dirigent. Neben einer internationalen Karriere begründete er gemeinsam mit dem Pianisten Zoltán Kocsis 1983 das Budapest-Festival-Orchester. Neun Jahre später wurde daraus ein Vollzeitorchester, das 2008 bei einer Umfrage des britischen Musikmagazins Gramophone auf Platz neun der weltweit besten Orchester gewählt wurde. Während man das Repertoire des Orchesters eher als konservativ bezeichnen kann, tritt es immer wieder mit neuen Aufführungsformaten in Erscheinung.

Auch in diesem Jahr ist das Budapest-Festival wieder zu Gast im Concertgebouw Brügge. Das Programm, das am Donnerstagabend beginnt, ist mit Romantische Sinfonien überschrieben. Und so bekommt das Publikum am ersten Abend Mozart, Rossini und Schubert zu hören. Auch der zweite Abend beginnt mit Mozart. Es gibt halt keinen Besseren, oder? Und für das Publikum in Brügge soll es nur vom Besten geben. Als Solist nimmt Emanuel Ax für das Violinkonzert Nummer 22 in Es-Dur am Piano Platz. Routiniert und entspannt trägt einer der profiliertesten Pianisten der Welt seinen Teil zum Gelingen des Abends bei, das Orchester übernimmt engagiert und überzeugend den Rest.

Welch ein Kraftwerk in dem Orchester steckt, wird allerdings viel deutlicher, als Anton Bruckners vierte Sinfonie in Es-Dur zur Aufführung kommt. Hier wird die ganze Erhabenheit der Komposition ausgespielt. Gebannt verfolgt das Publikum die Romantische, die seit der Uraufführung am 20. Februar 1881 in Wien zu den beliebtesten Konzertwerken überhaupt gehört. Und bei aller Begeisterung, die die hohe Qualität der Aufführung hervorruft, es ist schlicht grandios, was das Orchester in der wunderbaren Akustik des Concertgebouw produziert, es bleibt ein sehr traditionelles Konzert. Bezieht sich der Festival-Gedanke also allein darauf, mit größtmöglicher Brillanz allzu Bekanntes wiederzugeben?

Am Samstag gibt es dann so etwas wie einen Durchbruch. Auf dem Programmzettel ist die Hitparade der Orchestermusik angekündigt. Fischer kokettiert damit, dass bei dem geplanten Abend Spielfehler des Orchesters vorprogrammiert seien. Denn es gibt kein Programm. Im Programmheft ist das beachtliche Repertoire des Klangkörpers abgedruckt. Daraus sollen nun Besucher, die per Los ausgesucht werden, Stücke vorschlagen, über die das Publikum dann abstimmt. Klingt ein wenig verworren, funktioniert aber und bringt hübsche Nebeneffekte mit sich. Hat nämlich das Publikum über drei Vorschläge abgestimmt, müssen zunächst die Partituren verteilt werden. Zeit, die mit kleinen Versatzstücken der solistisch auftretenden Musiker des Orchesters überbrückt wird. Da gibt es neben Ligety und Elgar Bläser-, Geigen- und Flötensoli auch ungarische Volkstänze und einen – getanzten – Tango. Ganz wunderbar.

Hier entscheidet das Publikum

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Und wenn das Publikum endlich mal die Gelegenheit bekommt, die Programmabfolge selbst zu bestimmen – tja, was passiert dann? Die große Überraschung bleibt aus. Zum Einstand gibt es Michail Glinkas Ouvertüre aus Ruslan und Ljudmila, gefolgt von der Ouvertüre zu Verdis La Forza del destino. Was den Abend würzt, ist die Moderation Fischers in fließendem Niederländisch. Lakonisch führt er durch das allmählich entstehende Programm.

Mahlers Titan-Sinfonie darf da ebenso wenig fehlen wie das Andante cantabile aus Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5 in e-moll, gefolgt von Dvořáks achter Sinfonie, aus der das Allegretto grazioso wiedergegeben wird. Es schließt sich das Finale von Mozarts Jupiter-Sinfonie an und der Abend findet seinen rauschenden Abschluss im Walkürenritt.

Dieses Aufführungsformat hat Fischer mit seinem Orchester zum ersten Mal in Brügge ausprobiert. Ob es eine Wiederholung erfährt, ist ungewiss, denn der Aufwand, der dafür betrieben wird, ist doch enorm.

Zum Schluss haben sich alle prächtig amüsiert und das wundervolle Spiel des Budapest-Festival-Orchesters genossen. Der Beifall ist groß. Im August gibt es die nächste Gelegenheit, das Angebot von Bruges? Sounds great! wahrzunehmen. Dann wird das MAfestival aufgeführt, das seit mehr als einem halben Jahrhundert einen Blick auf die Alte Musik wirft, also musica antiqua zu Gehör bringt. Klassik-Freunde werden dann ihren Blick wieder gen Brügge richten – und möglicherweise einen weiteren Besuch dieser wunderbaren Stadt wagen. Glück, das mir verblieb, lautet die zweite berühmte Arie aus Korngolds Oper. Dass sich der Titel auf die so gar nicht tote Stadt und ihr musikalisches Angebot beziehen könnte, ist eine schöne Vorstellung.

Michael S. Zerban