O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Orchester- und Chorprobe - Foto © Björn Hadem

Hintergründe

Melodie der Achtung des Selbst und des Anderen

Hier ein Akt staatlicher Repräsentation, dort ein bewegendes Zeichen der Zivilgesellschaft. Berlin erlebt ein von den Medien kaum registriertes starkes Signal gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Erstmals treten die Roma- und Sinti-Philharmoniker mit einem jüdischen Chor auf.

Riccardo M Sahiti – Foto © Björn Hadem

Requiem  aeternam dona eis, Domine, et lux perpetura luceat eis. Mit diesem Satz klingt Libera me aus, das Finale des Requiems, Herzstück der klassischen christlichen Liturgie. Für einige Sekunden herrscht totale Stille, dann bricht starker Beifall aus. Es ist zu spüren, wie er im Publikum die Beklemmung löst, die die Roma- und Sinti-Philharmoniker unter ihrem Dirigenten Riccardo M Sahiti mit der Aufführung des Requiem für Auschwitz bei vielen ausgelöst hat. Komponist des 2000 uraufgeführten Werks ist der schweizerisch-holländische Sinto Roger Moreno-Rathgeb. Seine Totenmesse versteht er als „lebendes Mahnmal“ des Gedenkens aller Gemordeten und Geschundenen des NS-Regimes. „Meine Komposition ist eine Mahnung an die Welt“, beschreibt Moreno-Rathgeb seine Motivation, „Menschenleben und Menschenwürde zu achten, Glaubensüberzeugungen zu respektieren und Gerechtigkeit walten zu lassen.“

Sein 2012 uraufgeführtes Requiem für Auschwitz in g-Moll für Soli, Chor, Orgel und Orchester, folgt der lateinischen Liturgie. Doch zeichnet es sich anders als zahlreiche vergleichbare Kompositionen mit ihren disruptiven Brechungen durch einen gleichmäßigen Strom der Töne aus. Im Berliner Dom entfaltet dieser Strom seine suggestive Wirkung, die durch Einspielung von Schwarzweiß-Fotos von Opfern der Roma im Konzentrationslager auf einer seitlichen Leinwand noch gesteigert wird. Es ist der Strom des Todes wie des Lebens, der – Dies irae – den Furor des Schreckens wie – Lux aeterna – die Seligkeit der Erlösung in sich trägt.

1.400 Besucher unter der Dom-Kuppel

Die Aufführung am Vorabend des Auschwitz-Gedenktages ist keine beliebige Aufführung, erlebt vielmehr den größten Rahmen seiner noch jungen Rezeptionsgeschichte. Alle 1.400 Plätze sind in dem Bau im Neorenaissance-Stil am Lustgarten unter der knapp 100 Metern hohen Kuppel belegt. Offenkundig groß ist auch das Spektrum der einfließenden Unterstützungen wie der involvierten Organisationen. Insbesondere Kirchen und Verbände haben mobilisiert „Wir sind gerade aus Moskau zur jüdischen Gemeinde Berlin gekommen“, berichten zwei junge Russinnen im Pulk der Wartenden, die vor Konzertbeginn bei Minustemperaturen in den Dom drängen. „Uns interessierten sofort die Musik und das Thema, als wir davon auf Facebook gelesen haben.“

In zahlreichen Presseberichten ist von der Sorge vor einer Ritualisierung und Marginalisierung der Erinnerungskultur die Rede. Die Konservierung der Geschichte werde dann besonders schwierig, wenn die Zeitzeugen nicht mehr leben werden. Vom „verunsicherten Gedenken“ schreibt Anna Sauerbrey im Berliner Tagesspiegel. Hier und heute liegt dieser Gedanke fern. Pathetisch gesprochen ist ein neues Kapitel in der Erinnerungs- und Versöhnungsgeschichte zum Holocaust dank der universellen Sprache der Menschheit, der Musik, aufgeschlagen worden. Erstmals finden sich Musiker der Roma mit einem jüdischen Chor im gemeinsamen Gedenken aller Opfer und der Überlebenden des Holocaust. Allein dieser Umstand ist alles andere als naheliegend, mehr als eine Selbstverständlichkeit. „Es ist uns ein großes Anliegen“, heißt es im Schreiben des Chores mit der Zusage an Sahiti, „gemeinsam mit den Roma- und Sinti-Philharmonikern ein Konzert zu geben und hiermit eine Zusammenarbeit von großer Symbolkraft einzugehen.“ Die wechselseitige Annäherung hat auch eine individuelle Ebene. Die Altistin Zoe Kiss – gemeinsam mit Sopranistin Yasmine Levi-Ellentuck, dem Tenor Alexander Simoes und dem Bassisten Gabriel Loewenheim Interpreten der solistischen Partien – singt auch im Partnerchor, dem Synagogal-Ensemble Berlin.

Neugier auf jüdische Sakralkunst

Regina Yantian – Foto © Björn Hadem

Dieser 2002 von seiner Leiterin Regina Yantian und dem Kantor Isaac Sheffer gegründete Chor ist wie die Philharmoniker Sahitis ein Projektensemble. Die je nach Programm bis zu 16 professionellen Sängerinnen und Sänger agieren an unterschiedlichen Opernhäusern und als freiberufliche Konzertsänger. „Unser Ziel ist es“, erläutert Yantian, „die jüdische Liturgie und kantorale Musik mit Schwerpunkt auf die deutsche Tradition einem breiten Publikum nahe zu bringen.“ Das Genre sei fast in Vergessenheit geraten. Die dem Requiem für Auschwitz vorgeschaltete Aufführung der Komposition Sim Schalom für Kantor, Chor und Orgel des 1930 in Kanada geborenen Ben Steinberg macht, wie an den Reaktionen im weiten Rund zu spüren ist, ziemlich neugierig auf diese Sakralkunst. Voller Inbrunst die Kantilenen des vierstimmigen Chores. Bestechend dessen homogener Vortrag. Machtvoll das Spiel Arno Schneiders auf der Orgel, imposant die ausdrucksstarke Stimme Sheffers, die den ganzen Raum füllt.

Im öffentlichen Bewusstsein beschränkt sich die Vorstellung von den Opfern der Shoa weitgehend auf die umgebrachten Juden. In ihrer Rede beim Gedenkkonzert der Staatskapelle Berlin in der Staatsoper am Folgetag, dem Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz, weitet Bundeskanzlerin Angela Merkel in Anwesenheit des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, den Blick auf die Tatsachen: „Wir gedenken der sechs Millionen ermordeten Juden, der Sinti und Roma, der Menschen mit Behinderungen, der politischen Gefangenen, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiter. Wir gedenken der polnischen Opfer der deutschen Besatzung.“ Worte von seltener Klarheit. Unter der verengten Opferperspektive ist das interkulturelle Miteinander des Abends in dem Dom mit seiner christlichen Symbolik ein Wert an sich. Und irgendwie herausragend. Eine „große Freude“ nennt Sahiti die neue Erfahrung.

In der Staatsoper am folgenden Abend ist die Konzertdramaturgie ähnlich. Dem Hauptwerk, Beethovens Eroica, ist Arnold Schönbergs1947 im Exil in den USA entstandenes Melodram Ein Überlebender aus Warschau vorangestellt. Im zentralen Part des Sprechers: der eindrucksvoll deklamierende Opern- und Jazzsänger Thomas Quasthoff. In dem sieben Minuten umfassenden Werk setzt Schönberg dem Grauen der Judenvernichtung ein musikalisches Denkmal. Emotional packender Höhepunkt ist Schema Israel/Höre Israel, der von der Posaune verstärkte Aufschrei des Männerchors, der über die Ausweglosigkeit des Ghettos hinausweist. Die Herren des Staatsopernchors steigern die formal knifflige Zwölfton-Passage zu einer Hymne auf die Zukunft.

Exzellente Staatskapelle

Beethovens dritte Sinfonie, dieses kompositorisch wie ideell revolutionäre frühe Opus der entstehenden Programmmusik, zelebriert die Staatskapelle wie ein Kolossalgemälde der Gipfel und Abgründe der Menschheit. Unverändert beeindrucken die hier erstmals in der Sinfonik eingesetzten drei Hörner. Die Staatskapelle, im Jubiläumsjahr ihres Bestehens seit 450 Jahren eh auf dem qui vive, präsentiert sich in exzellenter Verfassung. Die Streichertutti mit der sonoren Grundierung der diesmal links postierten Kontrabässe spielen in der champions league. Großartig Solohorn und Soloflöte, einfühlsam im Pochen wie im Verhalten die Pauke. Exzellent, wie gesagt. Doch mutet das von Barenboim bevorzugte Klangbild wie gelackt für einen Staatsakt an. Sprächen wir über ein musikalisches Hochamt in einer katholischen Kathedrale, könnte von einem Pontifikalamt die Rede sein. Arg gedehnt mit 17 Minuten Länge fällt das Adagio assai des zweiten Satzes mit seinem Trauermarsch aus. 12.40 Minuten benötigt John Eliot Gardiner bei seiner Einspielung mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique,14.50 Claudia Abbado mit den Berliner Philharmonikern.  Im Scherzo, dem dritten Satz, mehr noch im tänzerischen Finale dirigiert der Generalmusikdirektor wiederholt mit Gesten wie ein Matador in der Arena. Dabei ist Beethovens Musik eh schon heroisch.

Im Programmheft spricht Barenboim von seiner Sorge vor einem „hochgefährlichen Antisemitismus in Deutschland“. Und mahnt: „Wir alle müssen dieser neuen Gefahr geschlossen und entschieden entgegentreten.“ Die ungewöhnliche Wahl der Eroica für das Gedenkkonzert wird so nachvollziehbar, ein Korrektiv gegen die Barbarei des NS-Regimes. Beethoven bleibe – so Barenboim – „ein Symbol für das Allerbeste in der deutschen Geschichte“. Die Trauer des Marcia funebre steht so in einer unmittelbaren Beziehung zu den Opfern, deren Staatskapelle, Ehrengäste und Publikum in der sanierten Lindenoper eindrucksvoll gedenken.

Es existieren zahlreiche Zeugnisse, die die Bedeutung der Musik für das Überleben des Lagers beschreiben und für uns erfahrbar machen. Etwa von der inzwischen 92-jährigen Anita Lasker-Wallfisch, die in der Lagerkapelle Birkenau Cello spielte. In ihrer Rede in der Staatsoper zitiert Merkel nun den polnischen Überlebenden Adam Kopyciński. Die Musik, resümierte der einstige Dirigent eines Männerorchesters in Auschwitz, „förderte die Selbstachtung des Menschen, die in der Zeit des Lagerlebens so grausam mit Füßen getreten wurde.“ Ist Musik ein unverzichtbares Element der Bewahrung der Menschenwürde selbst im Angesicht der abscheulichsten Verbrechen, so ist Musik heute – der nächste Schritt – vielleicht ein unerlässliches Element einer Kultur der vorurteilsfreien Wahrnehmung durch die häufig unterinformierte Mehrheitsgesellschaft. Der Wahrnehmung von ausgegrenzten Minderheiten jenseits von Stereotypen und Klischees. Jüdische und Roma-Künstler haben gemeinsam in einem christlich geprägten Bauwerk ein starkes Signal gesetzt. Das Erinnern dürfte eine neue Qualität erfahren haben.

Ralf Siepmann