O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Enrico Nawrath

Polizeiruf Bayreuth

Sind die Inszenierungen, die anlässlich der Bayreuther Festspiele gezeigt werden, eigentlich wirklich so schlecht, wie in zahlreichen Kritiken zu lesen ist? Oder gibt es womöglich noch einen anderen Blickwinkel, der ihnen etwas Verbindendes, Übergeordnetes verleiht? Die Betrachtung der Inszenierungen von Tristan und Isolde, Parsifal und Tannhäuser soll hier den Blick erhellen.

In den Opern Richard Wagners geht es immer ums Ganze: Leben und Kunst. Bayreuth 2023 im Dreiklang von Tristan und Isolde, Parsifal sowie Tannhäuser zeichnet ihn neben den künstlerischen Assoziationen der Inszenierungen von Roland Schwab, Jay Scheib Tobias Kehrer gleichsam leibhaftig nach. Die schwangere Sopranistin Cornelia Heil, Choristin in Tristan und Isolde schlägt als Edelknabe im Tannhäuser eine hoffnungsvolle Brücke in zukünftiges Leben.

Andererseits schweben über allen drei Inszenierungen elliptisch kreisförmige, bühnenarchitektonische Segmente. Der freie Blick in den hellen, blauen Taghimmel, mit dem zweiten Akt verändert in den sternenbekränzten Nachthimmel und weiterhin mit hängenden Pflanzranken assoziiert in Tristan und Isolde final, als senkte sich der Himmel nachtstill über die Liebenden. Als sollten sie allein Frieden finden, wenn sich Himmel und Erde zu einem neuen Kosmos, einer anderen Lebenswirklichkeit vereinen.

Im dritten Akt des Parsifal hebt sich ein leuchtender Sternenkranz aus dem Wasserloch eines verlassenen Kieswerks. Bewacht von einem riesigen, mit Röhren bewehrten Schaufelbagger, als könnte er im nächsten Moment in Stellung gehen und mit Marschflugkörpern verteidigungsbereit sein. Jener an einen Heiligenschein gemahnende Kranz, der über dem Festspielchor, exzellent von Eberhard Friedrich wie seit vielen Jahren eingestellt, leuchtet, als Gurnemanz glaubt, mit Parsifal den durch Mitleid wissenden reinen Toren gefunden zu haben. Über dem Kies-Dreckloch kiest Parsifal als Wanderer, Ausgestoßener und Gesetzloser erlöst in der Transzendenz von Wagners Weltabschiedswerk. Die Enthüllung des Grals, von, wie es bei Wagner heißt, „blendendem Lichtstrahl … in immer stärker leuchtenden Purpurfarben“ getroffen, setzt die Inszenierung werkgetreu ins Licht.

Ein Lichterkranz, der auf einem Tisch im das Original antizipierend nachgebauten Tannhäuser-Wartburg-Festsaal liegt, wird mit Beginn des Sängerwettstreits nach oben gezogen. Er spendet in Erhabenheit Licht, das sich in der Trommel der von Günter Grass geliehenen Figur des Oskar Matzerath spiegelt Manni Landmann glänzt in kongenialer Präsenz. Zusammen mit Venus und dem Drag-Artisten Le Gateau Chocolat konterkarieren sie als eine bunte Gesellschaft fahrender Jahrmarktsgesellen den heiligen Ort. Sie entern ihn als Road-Movie-Stopp auf dem Weg von Eisenach nach Bayreuth und zurück.

Multiple Wahrnehmungsebenen markieren assoziationsreiche Bildangebote, die die drei Opern auf unterschiedliche, gleichwohl medial affine Weise verbinden. Live-Kamera-Projektionen, die zu Sehendes und nicht zu Sehendes übereinander belichten, multiple Ebenen, auf die kaum noch eine Inszenierung verzichten will – oder kann?

Video animierte Einspielungen, die sich wie die Swimmingpool-Wasseroberfläche in Tristan und Isolde als obsolet erweisen, lassen die schwergewichtigen Catherin Foster und Clay Hilley gleichsam über dem Wasser schweben. Ins Zentrum projizierte Strudel im Video von Luis August Krawen kreisen sie ein. Liebes-Gefangene der Nacht, für die es nie wieder Tag werden möge. Mobil drehende Sonnenliegen räumt Piero Vinciguerra mit dem zweiten Akt von seiner Bühne ab. Foster und Hilley gleiten wie auf einer zerbrechlich gefrorenen Eisfläche aufeinander zu. Suchen Halt, finden ihn nur vorübergehend.

Jay Scheib sind diese doppelten Sichtebenen für Parsifal nicht genug. Augmented Reality (AR) gilt ihm als „eine großartige Möglichkeit, diese Welten in einer Art und Weise zu zeigen, wie man sie sich sonst nicht ausdenken kann“. Großartig vom Anspruch, geradezu läppisch, professionell mehr als suboptimal erlebt mit der AR-Brille auf der Nase. Was mit ihr zu sehen ist, ist wie ein Rückfall in verstaubte Inszenierungen. Bluttropfender Schwan, der abgelegt den Eindruck erweckt, als würde er als nächstes in die Bratenröhre geschoben. Blattlose Bäume mit Wurzelgeflecht schieben sich ins Bild, züngelnde Schlangen kriechen durchs Brillenbild. Ein Insekt setzt sich auf den Brillenrand.

Während Andreas Schager in paradiesischer Parsifal-Verheißung wartet, marschieren unter AR-Brillen Avatare wie in Wsewolod Illarionowitsch Pudowkins filmischer Revolutionstrilogie Die Mutter von 1926 in den Vordergrund, umarmen sich und gehen zurück. Vorläufig ist die Revolution, die Enthüllung des Grals, noch abgesagt.

Um nicht der bildlichen, für die Inszenierung folgenlose Spielerei – „Die Inszenierung ist auch ohne die AR-Brille vollwertig!“, sagt Scheib – aufzusitzen, empfiehlt es sich, sie nach dem ersten Akt ernüchtert beiseite zu legen. Quietschbunte, hollywoodähnliche Spiegel, barbusige Blumenmädchen illustrieren szenisch, während Parsifal und Kundry eintönig immer wieder ein Wasserbecken im zweiten Akt durchwandern. Erfrischung gibt es einzig und allein in der Schwüle des Tages nach der Pause durch einen Regenschauer.

Das Tannhäuser-Road-Movie wechselt mit drei extrem unterschiedlichen Bühnenbildern von Rainer Sellmaier die Wahrnehmungsperspektiven. Mit einem Citroën-Kleinbus à la einer Marina-Abramović-Ulay-Aufführung sind Venus und Gefährten unterwegs zur Wartburg. Video-Einblendungen von Manuel Braun folgen ihrem Weg, inklusive tödlichem Polizistenunfall und Märchenhalt bei Frau Holle
plakatieren sie „Frei im Wollen/frei im Thun/frei im Genießen“.

Tannhäuser hat genug von solchem Genuss. Er steigt unterwegs aus, springt aus dem Auto, landet auf dem Asphalt einer Straße nahe Bayreuth. Vor dem nachgebauten Bayreuther Festspielhaus, auf dem die Wagner-Fahne weht, bevölkert von dem jetzt im Parkett sitzenden (Zuschauer-)Chor, sich mit dem aktuellen Programm Frischluft zuwedelnd, begrüßen ihn die Sänger mit ihrer Musiker-Erkennungskarte um den Hals.

Im zweiten Akt ist die Bühne horizontal getrennt. Unten die Spielebene, darüber Schwarzweiß-Bilder der Live-Kamera. Sie verzahnen das Libretto des Sängerwettstreits mit einer von Kratzer visuell ergänzten Geschichte vom Entern des Festspielhauses durch Venus und Co., inklusive Knebelung eines Edelknaben in der Toilette und Anverwandlung in jenen durch Venus. Katharina Wagner wird die Polizei rufen.

Live-Schnitte der von der Kamera hinter der Bühne beobachteten Reaktionen der Sänger, insbesondere die gestisch-mimischen von Tannhäuser, und ihr unmittelbarer Ein- und Auftritt in das Bühnengeschehen sind ein bemerkenswertes Beispiel für eine situativ relevante Narration im Geiste des Originals. Dass im dritten Akt auf einem verwahrlosten Rastplatz, wo Oskar mit dem Bus allein gestrandet ist, der Chor der Rom-Pilger die armseligen Reste vor Oskars staunenden Augen in ihre Stoffbeutel einsammelt, kommentiert fromme Doppelmoral.

Interessant und zugleich auf merkwürdige Weise vergleichbar zu beobachten, sind szenisch gestische Darstellungen, die Kreuz und Kreuzigung assoziieren. Foster neigt sich in der hochemotionalen Liebesszene von hinten über den knienden Hilley, legt ihre Handflächen in die seinen. Sie bilden ein authentisch körperbetontes Liebes-Signet. Aus ihm fließt ihr Gesang magisch klangfarbig. Währenddessen initialisiert Kundry in Schagers lyrisch dramatischem Parsifal eine Kreuzigung, die allein in Klingsors Zaubergarten ewig Bestand haben kann. Dagegen ignorieren Elisabeth und Tannhäuser alle Kreuzungen und fahren einem ungewissen Zukunfts-Abendrot entgegen.

Die Zusammenschau Bayreuth 2023 – Tristan und Isolde, Parsifal, Tannhäuser – bekommt durch erstklassige Solisten einen außergewöhnlichen Glanz von Gesang und Spiel. Christa Mayer als Brangäne sowie Elisabeth Teige als Elisabeth, Nichte des Landgrafen, stehen Foster und Hilley in der gesanglichen wie spielerischen Rollengestaltung in nichts nach. Derek Welton ist ein kraftvoll agierender Amfortas, wie Jordan Shanahan einen zauberischen Klingsor gibt. Die inzwischen fast selbstverständlich zu erwartenden Glanzlichter setzen Günther Groisböck und Klaus Florian Vogt als Landgraf Hermann und als Tannhäuser.

Einen musikalisch künstlerischen Reiz, der in dieser Unmittelbarkeit besonders werthaltig ist, setzen einzelne Solisten in unterschiedlichen Rollen. Georg Zeppenfeld sind in den letzten Jahren viele Lobeshymnen gesungen worden. Zu Recht, wie sowohl sein Marke als auch der Gurnemanz in Bass-Stimmigkeit und Sprechdeutlichkeit überzeugen.

Ihm nicht weniger nachstehend der Bariton Markus Eiche in den Rollen des Kurwenal und des Wolfram von Eschenbach. Rollengerecht in voneinander sehr unterschiedlichen Typen von Schmeichelei und Gewaltanwendung. Einer der gefragtesten Wagner-Baritone ist in Bayreuth angekommen.

Seit Ekaterina Gubanova 2005 als Brangäne in Tristan und Isolde in Paris eingesprungen ist, hat sie sich weltweit einen Namen gemacht. Dass sie jetzt als Kundry mit ihrem Bayreuther Rollendebüt stimmlich und spielerisch überzeugt, kann deshalb nicht verwundern. Weniger überzeugend allerdings ihre Venus, für die sie auch einige Buh-Rufe erhält. Sie überreizt teilweise ihre erotisch nonverbale Kommunikation mit Elisabeth einerseits, wie sie andererseits in der Pose von Uma Thurman im Film Kill BillTannhäuser kampfbereit an die Wäsche geht.

Die Dirigate von Markus Poschner beiTristan und Isolde und Pablo Heras-Casados Hausdebüt mit Parsifal setzen mit den Ouvertüren dezidierte Fermaten, die sich als stabil nachhaltiger Klangkosmos durch die Aufführungen ziehen. Nathalie Stutzmann gelingt im Tannhäuser nicht durchgängig eine Balance zwischen den Solisten und dem in allen drei Aufführungen engagiert und nobel spielenden Festivalorchester.

Bayreuth 2023, ein Wagner-Fest mit szenischem Polizeieinsatz, das nach Corona wieder seine Bahnen zieht. Und nach wie vor Menschen für einige Wochen lohnend in die oberfränkische Provinz verführt.

Peter E. Rytz