O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Barbara Frommann

Aktuelle Aufführungen

Auferstanden aus der Pandemie

DIE NEUNTE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
20. August 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Beethovenfest Bonn, World Conference Center Bonn

Aufersteh‘n, ja aufersteh‘n, wirst du, mein Staub, nach kurzer Ruh!“ Das Motto des diesjährigen Bonner Beethovenfests klingt wie eine Replik auf die trostlose Zeit der Pandemie, die im letzten Jahr die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Beethovens gründlich verhagelt hat. Das Motto stammt aus einem Gedicht Friedrich Gottlieb Klopstocks, dessen Vertonung Gustav Mahlers Zweite Symphonie krönend abschließt. Dieses gewaltige Werk bildet auch den Schlussstein des bis zum 10. September dauernden Beethovenfests, in dem die Intendantin Nike Wagner zum Ende ihrer Amtszeit aus dem verflossenen Vorjahr so viel wie möglich nachholen will.

Im Mittelpunkt steht natürlich das Werk des Bonner Musensohns. Man startet gleich mit der „Neunten“ als Auftakt einer zyklischen Gesamtaufführung aller neun Symphonien an drei Tagen. Ausgeführt von fünf europäischen Orchestern, dreimal im „Originalklang“, zweimal mit modernen Orchestern. Wobei an jedem Tag jeweils ein „historisch“ ausgerichteter und ein traditioneller Klangkörper zum Zuge kommen. So können das französische Barockorchester Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset und die Ungarische Nationalphilharmonie unter Stefan Soltesz, das flämische B’Rock Orchestra und das ORF-Radio-Symphonieorchester unter Michael Boder jeweils an einem Tag genossen werden. Wem das nicht reicht, der darf sich auch noch an den Transkriptionen aller neun Symphonien für Klavier von Franz Liszt erfreuen.

Die Eröffnung im Bonner World Conference Center mit der „Neunten“ zu garnieren, mag nicht sonderlich originell anmuten. Diesen globalen Hymnus auf Freiheit und Brüderlichkeit dem französischen Barock-erfahrenen Orchester Le Concert des Nations unter der Leitung von Jordi Savall anzuvertrauen, ist jedoch mutig und kommt Nike Wagners Wunsch, „Beethoven neu zu hören“, durchaus entgegen. Die etwa 50 Mitglieder des Orchesters stammen aus vierzehn Nationen. Ein angemessenes Signal für Beethovens humane Botschaft. Und die Besetzung mit 35 Streichern und 15 Bläsern kommt nicht nur den Aufführungsbedingungen zu Beethovens Zeit entgegen, sondern verspricht auch eine ausgewogene Balance zwischen den Instrumentengruppen. Dass auf Originalinstrumenten musiziert wird und historische Aufführungspraktiken berücksichtigt werden, ist für den katalanischen Dirigenten eine Selbstverständlichkeit.

Doch so vielversprechend die Prämissen, so ernüchternd das Ergebnis. Die reichen Erfahrungen, die Savall auf dem barocken Terrain gewonnen hat, helfen ihm offensichtlich nicht viel, wenn es um ein Werk ganz anderer Dimensionen wie der „Neunten“ geht. Zu erleben ist eine uninspirierte, trocken, teilweise mickrig klingende Interpretation, ohne die ereignishaften Abgründe auch nur ansatzweise spüren zu lassen. Man muss nicht in mystischer Verzückung versinken. Aber die magische Entwicklung des Hauptthemas so nüchtern und spannungslos abspulen zu lassen, muss auch nicht sein. Das Scherzo huscht wie ein mechanisch aufgedrehter Elfentanz Mendelssohns vorüber, die berückenden Themen des Adagios bleiben blass, der stürmische Beginn des Schlusssatzes gerät verstolpert und klanglich ausgedünnt. Das ist zu wenig. Auch wenn der Vox Bona Kammerchor der Bonner Kreuzkirche und das Solistenquartett für eine solide vokale Grundlage sorgen.

Foto © Barbara Frommann

Nike Wagners Absicht, die spirituelle Kraft der Musik Beethovens in den Mittelpunkt zu stellen, wird mit dieser „Neuentdeckung“ der „Neunten“ kein guter Dienst erwiesen. Für spirituellen Beistand sollen laut Programmankündigung auch die Wiener Philharmoniker unter Leitung von Herbert Blomstedt mit Schuberts „Unvollendeter“ und Bruckners Vierter Symphonie sowie das Orchestre des Champs-Elysées mit dem Requiem von Gabriel Fauré und Strawinskys Psalmensymphonie sorgen. Und natürlich Mahlers Auferstehungs-Symphonie zum Abschluss und die mehrfach verschobene Aufführung der Missa Solemnis unter Leitung von Kent Nagano im Kölner Dom, die jetzt als Nachschlag für den 29. Oktober vorgesehen ist.

Zwei Streichquartette Beethovens bilden die musikalische Substanz des Tanzabends Gods and Dogs, den das Ballet de l’Opéra de Lyon in der Choreografie von Jiří Kylián am 22. August im Opernhaus zeigen wird. Mindestens so spektakulär dürfte das Bühnenprojekt Pavane für Prometheus von Romeo Castellucci ausfallen, das ab dem 4. September im Victoriabad zu sehen ist.

Experimentelle Berührungspunkte Beethovens mit zeitgenössischer Musik stehen im Mittelpunkt eines Campus-Projekts, ausgeführt vom Bundesjugendorchester unter Leitung von Johannes Kalitzke. Natürlich fehlt es nicht an namhaften Solisten wie die Geiger Daniel Hope und Carolin Widmann, den Pianisten Cyprien Katsaris und den Organisten Cameron Carpenter, der am 3. September zusammen mit dem Beethovenorchester Bonn unter Dirk Kaftan eine Eigenkomposition und Skrjabins Promethée interpretieren wird.

Nike Wagner verlässt das Festival nach sieben Jahren und zieht eine durchweg positive Bilanz, auch wenn sie dem Publikum, wie sie bekennt, mit ihren anspruchsvollen Programmen und Konzepten viel zugemutet hat. Damit stieß sie wiederholt von verschiedenen Seiten auf Kritik. Ihr Nachfolger, der 34-jährige Kulturmanager und Cellist Steven Walter, verspricht „ein am Publikum orientiertes Festival, bei dem die spannendsten Ideen und Formate zum Musikschaffen der Zukunft sozusagen unter der geistigen Schirmherrschaft Beethovens zusammenkommen“ sollen. Als Gründer der Festival- und Produktionsplattform Podium Esslingen machte er mit ungewöhnlichen Aufführungsformaten auf sich aufmerksam.

Pedro Obiera