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Wem die Stunde schlägt

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgski)

Besuch am
16. Oktober 2020
(Premiere am 20. September 2020)

 

Opernhaus Zürich

Die Neuproduktion von Modest Mussorgskis mächtiger Volksoper Boris Godunow nach Alexander Puschkin am Opernhaus Zürich, inszeniert von Regisseur Barrie Kosky, ist ein apokalyptischer Trip ins Russland des ausgehenden 16. Jahrhunderts, in der ein Zar um seine Krone und gleichzeitig mit seinem schlechten Gewissen ringt. Die Lesart ist ebenso eine Reise vom 21. Jahrhundert in eine einstige Monarchie, in der die Machtfrage nicht nur angezweifelt, sondern auch mit roher Gewalt entschieden wird. Kopf um Kopf kämpfen echte Bojaren und falsche Emporkömmlinge um einen Thron, der im besten Fall eine kurze Regentschaft bringt, aber immer auch einen brutalen Tod beinhalten kann.

Kosky erzählt die unrühmliche Geschichte vom Usurpator Boris Godunow, seinen unerbittlichen Widersachern und einem vermeintlichen Kindsmord aus der Perspektive eines Geschichtsstudenten. Er versetzt die Handlung in den ersten Bildern in eine riesige Bibliothek tief unter der Erde, die Ähnlichkeit mit einem KGB-Verhörbunker hat, in dem konspirative Gräueltaten ausgeheckt werden. Wie schon bei seiner Arbeit zu Macbeth oder La fanciulla del West in Zürich, präferiert Kosky für die mörderische Monumentaloper eine beklemmende Düsternis, wie man sie aus dem Film Noir kennt. Zürich spielt die erweiterte Fassung mit dem Polen-Akt und dem Revolutionsbild in der Originalinstrumentation, uraufgeführt 1874 am Mariinsky-Theater in St. Petersburg.

Wer die Urfassung des Komponisten kennt, die unter anderem vor zwei Jahren am Grand Théâtre de Genève konzis umgesetzt wurde, weiß zu gut, wo die erweiterte Version ihre Tücken hat. Es ist unter anderem der schiere Stimmungswechsel im dritten Akt der Partitur. Statt Mussorgskis sinisteren Deklamationen hört man vielmehr Massenet und sündhafte schöne Melodiebögen. Dieser Teil wirkt wie aus der Oper gefallen. Er fällt auch dramaturgisch ab, obschon die seidenen Tondichtungen vollumfänglich bezirzen. Godunows Ende im vierten Akt kommt unerwartet schnell und die darauffolgenden apotheotischen Chorgesänge sind epischen Ausmaßes.

Ähnlich wie in der Genfer Inszenierung von Matthias Hartmann bringt Kosky die zeitweilig starre Handlung in den ersten zwei Akten mit Hilfe von verschiebbaren Hochregalen in Bewegung. Bei ihm sind sie mit Büchern und Unmengen von Akten bestückt, was sich für den jungen Studenten als Labyrinth entpuppt. Dass die Bücher sprechen und singen, ist nicht satirisch gemeint, sondern der Tatsache geschuldet, dass in Zürich das Orchester sowie der Chor im nahe gelegenen Probelokal spielt und singt und per Glasfaserkabel direkt in den Opernsaal gestreamt werden. Boris Godunow ist auch eine Chor-Oper, und Kosky findet mit dem Kniff der plappernden Bände ein probates Mittel. Einerseits wird für die Musiker die Ansteckung mit dem Corona-Virus minimiert, andererseits hat das Zürcher Opernhaus auf diese Weise mehr Spielraum für die behördlichen Verordnungen.

Der Regie mit dem unzweideutigen Bühnenbild von Rufus Didwiszus gelingt ein finsteres Sittenbild eines vergangenen Zarentums. Kosky zieht die Fäden geschickt weiter zu einer Nation, die dann als Sowjetunion kalte Kriege provozierte und heute mit Putin-Power für rote Köpfe sorgt. Die Kostüme von Klaus Bruns nehmen den Faden kongenial auf, indem er deren Stil zeitlich nicht klar verortet. Franck Evin am Licht sorgt für entsprechenden Grusel, wie man ihn aus Horrorfilmen kennt. Soldaten mit unheimlichen Masken machen das Opus zum perfekten Bühnen-Schocker. Die Figurenzeichnungen sind durchwegs subtil und gehen selbst in den vielen Nebenrollen in die Tiefe. Die Zuschauer finden sich an diesem Abend als Gefangene der Geschichte, denn die lässt sich bekanntlich unterschiedlich auslegen.

Wenn am Schluss der Oper die riesige Zarenglocke den vorangegangenen Eskapismus und die zunehmende Paranoia der Protagonisten mitsamt ihren historischen Dokumenten unter sich begräbt, dann kann man darin mit wenig Anstrengung auch Hemingways For Whom the Bell Tolls lesen. In Zürich fällt der Glockenschlag mitunter recht blutig aus. Für Michael Volle wird sein Debüt als Boris Godunow nach der Corona-Zwangspause zur Paraderolle. Der Sänger gibt volle Kanne, nicht nur stimmlich, sondern auch im ausgiebigen und hoch authentischen Spiel. Es scheint, als wäre Volles sonorer Bariton kurz vor dem Bersten, wenn er als Godunow von Schuldgefühlen geplagt allmählich dem Irrsinn verfällt. Der Künstler erschüttert mit seiner differenzierten Darstellung nachhaltig. Seine Stimme ist von einer brachialen Inbrunst durchzogen und trotz dieser immensen Wucht auffallend vielschichtig.

Volle steht ein ebenbürtiges Solistenensemble zur Seite. Brindley Sherratt als Pimen dröhnt mit einem markerschütternden Keller-Bass und überzeugt ebenso mit charakterstarkem Spiel. Schöne Stimmen dominieren auch den Polen-Akt. Oksana Volkova betört mit ihrem knisternden Mezzosopran als feurige Polin Marina, und Johannes Martin Kränzle intrigiert als durchtriebener Jesuit Rangoni mit feiner Klinge und sonorem Bariton. Edgaras Montvidas setzt als falscher Dimitri stimmlich und darstellerisch eindrückliche Akzente. Sein heller Tenor ist facettenreich und mit lichten Farben durchwoben.

Lina Dambrauskaité hat als Godunows Tochter Xenia einen kurzen Auftritt, ihr kantiger Sopran ist messerscharf. Der Mezzosopran von Irène Friedli als Amme ist mit voluminöser Glut ausgestattet. John Daszak als Schuiski schrammt anfänglich mit seinem stählernen Tenor die Töne. Mehr als solide ist Konstantin Shushakov als Schtschelkalov mit seinem markanten Bariton. Als Geschichtsstudent beobachtet Spencer Lang das Geschehen auf der Bühne von Anfang an. Seinen luziden Tenor hört man kurz in der Partie des Gottesnarren.

Dass ein Glasfaserkabel nicht für die gleiche Qualität sorgt, wie eine Liveperformance vor Ort, dürfte niemanden wirklich erstaunen. Der Ton ist sogar erstaunlich gut, vor allem bei den Streichern. Blasinstrumente, darunter in erster Linie die Flöten, lassen hingegen eindeutig die Klarheit und Transparenz vermissen, die man aus dem Graben ansonsten gewohnt ist. Es tönt mehr nach mp3, statt nach hochaufgelöstem Surround-Sound. Das gleiche gilt für den souverän geführten Chor der Oper Zürich und den Chorzuzüglern unter Ernst Raffelsberger. Das Scheppern im Forte ist unverkennbar und wirkt im chorintensiven letzten Akt mehrheitlich verstörend. Tonmeister Oleg Surgutschow, der für die Live-Übertragung verantwortlich ist, trifft hier keine Schuld. Besser geht halt nicht.

Kirill Karabits hat die Philharmonia Zürich fest im Griff und präsentiert am Pult einen vollmundigen und emphatisch glühenden Orchesterklang mit lyrisch funkelnden Momenten. Gerne würde man diesen Klang und den bombastischen Chor bei einer Wiederaufnahme in einer Post-Corona-Zeit im Haus selbst hören. Der tosende Applaus am Schluss dieses Abends gilt nicht nur Michael Volles Ganzkörpereinsatz, sondern allen Mitwirkenden.

Peter Wäch