O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Toni Suter

Aktuelle Aufführungen

König schlägt Dame

ANNA BOLENA
(Gaetano Donizetti)

Besuch am
5. Dezember 2021
(Premiere)

 

Opernhaus Zürich

Nein, niemand will die Ausnahmekünstlerin Edita Gruberova, der zu Ehren vor der Vorstellung eine Schweigeminute abgehalten wurde, vom Thron stürzen. Auch postum nicht. Das dürfte ohnehin schwer möglich sein, ihr Können, gerade im Belcanto-Fach, wird wohl unerreicht bleiben. Der Abend mit Anna Bolena, eine Partie, die der Gruberova auf den Leib geschneidert war und die sie unzählige Male in Zürich zum Besten gab, hätte nicht besser sein können als Ehrerbietung. Regisseur David Alden und sein kongenialer Ausstatter Gideon Davey verlassen sich für diese 1830 uraufgeführte Tragedia lirica ganz auf das Libretto von Felice Romani nach dem Drama Henri VIII von Marie-Joseph de Chénier und tauchen tief ein in die unheilvolle Geschichte einer zu Unrecht beschuldigten Königin, die vom eigenen Gatten aus Überdruss dem Henker vorgeführt wird.

Das Regieteam mit den spektakulären Licht- und Schatteneffekten von Elfried Roller sowie den dezent gehaltenen Videoeinspielungen von Robi Voigt legt eine Stringenz an den Tag, die keine Verschnaufpausen zulässt und einen bis zum tragischen Schluss ins Sitzpolster drückt. Mit einfachen Stilmitteln, die fast unauffällig in die Szenerie geschleust werden, entwickelt die Lesart zusammen mit der vielschichtigen Musik einen Sog, der cineastische Dimensionen annimmt. Aus einer Bühne, die immer aufs Neue leergefegt wird und so ein kaltes Gemäuer freilegt, entstehen die einzelnen Szenen, und manchmal braucht es dafür nur eine zusätzliche hölzerne Wand mit Gucklöchern, einen Stuhl oder ein Metallbett. So wird ein ständiger Bewegungsfluss erreicht, ohne die Bühne dabei zu überladen. Ganz schön pfiffig ist auch die Idee, dass die Kostüme nicht auf eine bestimmte Zeit hindeuten, sondern vielmehr verschiedene Epochen des englischen Königsreichs repräsentieren. Und das funktioniert erstaunlich gut.

Foto © Toni Suter

Alden, der sich sonst gerne ironische Hinweise gönnt, verzichtet in der konzisen Anschauung des Tudor-Stoffs weitgehend auf Fingerzeige, da sonst dem unmissverständlichen Drama der Knockout drohen würde. Heinrich VIII war bekannt dafür, dass er über Leichenberge ging und es wahrscheinlich sogar genoss, zum Gattinnenmörder zu avancieren. Bei seiner Frau, der Königin Anna Bolena, ist der Fehler schnell gefunden: Die Angetraute schenkt ihm nämlich keinen Thronfolger. Darum fängt der Regent eine Liaison mit deren Hofdame Giovanna Seymour an. Eine Intrige ist schnell gesponnen, um Anna loszuwerden. Der ehemalige Verlobte muss her, damit beide auf angeblich frischer Tat beschuldigt werden können. Was Enrico zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Giovanna wird ihm später den ersehnten Sohn schenken, stirbt aber bereits im Kindbett und der Nachwuchs in jungen Jahren. Auf den Thorn steigt später seine Tochter Elisabeth, deren Mutter Anna er hinrichten ließ.

Zürich spielt Donizettis Tudor-Trilogie in untypischer Reihenfolge. Anna Bolena, die chronologisch den Auftakt gibt und mit Roberto Devereux endet, ging das Opus Maria Stuarda vor, in dem Elisabeth bereits Regentin ist und ihre Cousine Maria köpfen lässt. Für die Produktion, die ebenfalls von Alden konzipiert wurde, glänzte die Sopranistin Diana Damrau bereits 2018. Für ihr Rollendebüt der Anna Bolena entfacht die Künstlerin pure Leidenschaft und veranschaulicht auf empathische Weise, wie eine stolze Monarchin zur gebrochenen Frau mutiert. Damraus Gesangsbögen mit den vereinzelten vokalen Ausbrüchen sind makellos, ihre Pianissimi und Reduktionen von filigranster Gestaltung. Dafür hat man über weite Strecken das Gefühl, dass sich die Sängerin im Volumen zurücknimmt – vielleicht auch bewusst, weil ihre Koloraturstrecke am Ende von epischem wie akrobatischem Ausmaß ist. Ihr Piangete voi? – Al dolce guidami gelingt ihr denn auch auf atemberaubende Weise und wird entsprechend bejubelt.

Foto © Toni Suter

Das Schöne an der Zürcher Besetzung ist die Tatsache, dass niemand stimmlich oder darstellerisch abfällt. Alle geben alles. Die Wucht dieses todbringenden Schauspiels, bei dem sich die Helden ordentlich an die Wäsche gehen, überträgt sich eins zu eins auf die Premierengäste, die fleissig Szenenapplaus spendieren. Luca Pisaroni ist als Enrico VIII eine abscheuliche Figur, die sich im Moment seiner Todesdrohungen gegen die eigene Frau sexuell auflädt und mit Genuss alle in Geiselhaft nimmt, die zu Annas Gefolge gehören. Pisaronis Bass-Bariton donnert wie ein schwerer Truck auf dem Highway und wirkt in den Kellertiefen besonders bedrohlich. Karine Deshayes im Rollen- und Hausdebüt ist für die Zürcher eine wahrhaftige Entdeckung. Die Mezzosopranistin überzeugt als Giovanna Seymour durchweg als eine verunsicherte Frau, die das royale Techtelmechtel bereut. Ihre Stimme hat eine Kraft, die an den späten Verdi erinnert und mit ihren präzisen Spitzen Präsenz markiert.

Alexey Neklyudov ist Lord Riccardo Percy, der Ex-Verlobte Annas. Er gelangt mit seinem luziden wie wendigen Tenor in luftige Höhen und begeistert mit ebenso eleganten Phrasierungen. Stanislav Vorobyovs Bass ist markant und geschmeidig zugleich. Als Annas Bruder Lord Rochefort bleibt er bis zum bitteren Ende der stoische Fels in der Brandung. Der Mezzosopran von Nadezhda Karyazina hat eine betörende Alt-Qualität, ihre Rollengestaltung des Smeton, ein etwas schüchterner Spielmann und Page der Königin, ist subtil wie unaufgesetzt. Nathan Haller bringt als Sir Hervey einen elastischen und wohlklingenden Tenor in Stellung. Der Chor der Oper Zürich unter Ernst Raffelsberger ist das i-Tüpfelchen für das prächtige Solisten-Ensemble.

Es ist kein Geheimnis, dass Belcanto-Kenner Enrique Mazzola nicht der Mann fürs Grobe ist. Am Pult der Philarmonia Zürich bekräftigt er diese Eigenschaft mit Donizettis Oper Anna Bolena anschaulich. Fast schon akribisch legt der Maestro das Werk in seiner Differenziertheit frei, filetiert die feinen Passagen gut hörbar heraus und punktet mit der richtigen Dosis an Drama. Das hält den Orchesterapparat durchwegs luzide. Die Partitur, die früher oft in veristischer Art zugespitzt wurde, bekommt mit diesem Dirigat die nötige Entschlackung. Mazzola präsentiert einen breit aufgefächerten Klangkörper, der für den ränkereichen Schöngesang unabdinglich ist.

Der Schlussapplaus ist gewaltig, aber relativ kurz. Gut möglich, dass die Zuschauer nach über drei Stunden Maskentragen schnell ins Freie und an die frische Luft wollen. Auf den Champagner müssen sie nämlich alle verzichten: Die Bars bleiben wegen der Omikron-Variante geschlossen.

Peter Wäch