O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Traum, Illusion und Wirklichkeit

DIE ZIKADEN
(Gudrun Gottschalk, Carl Ludwig Hübsch)

Besuch am
9. Juni 2023
(Premiere)

 

Codeks-Arena, Wuppertal

Ingeborg Bachmann war eine der bedeutendsten Lyrikerinnen des letzten Jahrhunderts. 1926 in Klagefurt geboren, heimste sie im Laufe ihres kurzen Lebens einige bedeutende Preise wie den der Gruppe 47, den Georg-Büchner-Preis und den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ein. Kollegen waren und sind voll des Lobs. Etwa würdigte Heinrich Böll sie in einem Nachruf als „brillante Intellektuelle“, die „in ihrer Poesie weder Sinnlichkeit einbüßte noch Abstraktion vernachlässigte“. Sehr umfassend ist ihr Oeuvre in Form von Lyrik, Prosa, Libretti und Essays, die in Literaturkreisen sehr geschätzt waren und mit denen sich nachfolgende Generationen intensiv auseinandersetzten. Auch eine Reihe von Hörspielen gehört dazu. Fast alle entstanden in den 1950-er Jahren. Eins von ihnen trägt den Titel Die Zikaden, das am 23. März 1955 vom NWDR in Hamburg – kurz für Nordwestdeutscher Rundfunk – zum ersten Mal durch den Äther geschickt wurde und nun in der Wuppertaler Codeks-Arena eine musikalische Neugeburt erfährt.

Inhaltlich geht es um den Aufenthalt auf einer kleinen mediterranen Insel. Dort befinden sich Robinson, der Gefangene, Ms Helen Brown, Mr Charles Brown, Prince Ali, Jeanette und Stefano, die vom Festland geflohen sind, um sich bewusst in eine Isolation zu begeben. Gründe dafür sind unter anderem Unzufriedenheit und Sozialneid. Die Gemeinsamkeit ist nicht gewollt. Kurz und bündig werden die Personen beschrieben. Dabei fungiert Antonio als Bindeglied, der sie kennt und ihnen helfen will. Aber die für sie wichtigen Fragen danach, ob ihr Tun sinnvoll ist, beantwortet er mit nein. Rücksichtslos entlarvt die Autorin ihren Traum vom neuen Glück dort. Das Dasein auf der Insel bringt nur kurze Linderung. Was hinter ihnen liegt, bleibt unvergessen, auch weil das in der Nähe liegende Festland sichtbar ist. Die vordergründige Idylle wird zudem von dem pausenlosen gnadenlos-lauten Zirpen der Zikaden gestört. Bachmanns Wahl des Titels geht jedoch viel tiefer. Sie bezieht sich außerdem auf das Werk Phaidros des antiken griechischen Philosophen Platon, in dem der Zikaden-Mythos vorkommt. Dort heißt es: „Aber als die Musen entstanden und der Gesang an den Tag trat, da wurden einige von jenen so hingerissen vor Lust, dass sie singend Speise und Trank vergaßen und, ohne es innezuwerden, dahinstarben. Von diesen stammt seitdem das Geschlecht der Zikaden, das von den Musen dies Geschenk empfing, von ihrer Entstehung an keinerlei Nahrung zu bedürfen, sondern ohne Speise und Trank sogleich zu singen“. Hat man es also auf der Insel mit solchen Zikaden zu tun? Nein, denn das Versöhnliche bei Platon kehrt Bachmann um zu einem vernichtenden Fluch. Bei ihr sagt der Erzähler, die Zikaden sind „verzaubert“, aber auch „verdammt“. Der Zikadengesang ist ein „Schrei aus trockenen Kehlen“. Er erscheint nicht zum Lob der Musen, sondern drückt unmenschliche Bedrohung aus. Des Weiteren fußen Die Zikaden auf einen biografischen Hintergrund Bachmanns. Sie hielt sich von August bis Oktober 1953 auf der Insel Ischia auf, wo sie den Zikadengesang hautnah erlebte. Hans Werner Henze, der im Frühsommer desselben Jahres zunächst dorthin aus Deutschland emigrierte und fortan in Italien blieb, warb solange bei ihr, zu ihm zu kommen, bis sie die Einladung annahm. Ihr Gedichtzyklus Lieder von einer Insel und auch Die Zikaden deuten auf diesen Aufenthalt hin. Auch wird Bachmanns Musikdenken explizit in dieser Zeit sehr von Henze beeinflusst und vertieft: „Die Begegnung mit Hans Werner Henze ist für mich sehr, sehr wichtig, denn wirklich verstanden habe ich Musik erst durch ihn“.

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Der deutsche Komponist und Bachmann lernten sich ein Jahr zuvor im Oktober auf der Burg Berlepsch bei Witzenhausen kennen, wo die Gruppe 47 tagte. Dabei handelt es sich um ein deutschsprachiges Schriftstellertreffen, zu dem von 1947 bis 1967 der deutsche Schriftsteller Hans Werner Richter regelmäßig eingeladen hatte. Eine enge Freundschaft entstand, die bis zu ihrem plötzlichen Tod anno 1973 andauerte. Auch künstlerisch verband sie eine seelenverwandte Zusammenarbeit. Die Ballettpantomime Der Idiot, der Orchestergesang Nachtstücke und Arien und die beiden Opern Der Prinz von Homburg und Der junge Lord sowie die Chorfantasie Lieder von einer Insel sind Gemeinschaftswerke.

Auch zu Bachmanns Zikaden-Text komponierte Henze eine darauf maßgeschneiderte Musik. Der zu Papier gebrachte Notentext ist genauso vielschichtig und tiefgründig wie die geschriebenen Worte. Verfasst ist er für großes Orchester und gemischten, textlosen Chor: drei große und drei Piccoloflöten, , dreifach besetzte Oboen, Klarinetten plus zwei Bassklarinetten und Fagotte plus zwei Kontrafagotte, doppeltes Englisch Horn, acht Hörner, jeweils drei Jazz- und Konzerttrompeten, drei Posaunen, Tuba, Pauke, Celesta, Harfe, umfangreich-wechselndes Schlagwerk sowie einen groß besetzten Streichersatz. Der Musiksprache liegt eine Zwölftonreihe zugrunde, die nicht nach streng seriellen Mustern verarbeitet wird. Sie wird unter anderem transponiert, in interschiedliche Gruppen aufgeteilt durch das Orchester geführt, in Krebsform rückwärts behandelt, hinsichtlich Tonhöhen auf unterschiedliche Orchestergruppen verteilt, Musikdauern über variable Taktlängen realisiert oder die sich ändernden dynamischen Prozesse werden durch die Stimmen geschickt. Die Kompositionstechnik ist also komplex, dagegen leicht durchhörbar. Henze versteht es brillant, nicht nur die Charaktere der Protagonisten mit ihren unterschiedlichen Wünschen und Vorstellungen klanglich zu illustrieren. Er bringt darüber hinaus auch das zum Vorschein, was nicht in Worte gefasst werden kann. Die Musik in den fein durchstrukturierten zehn Nummern findet auf zwei Ebenen statt. Einerseits ist sie ein Warnschrei, der verdeutlichen will, wie die Figuren in die grenzenlose Zeit- und Ortlosigkeit ihrer Wunschwelten abdriften. Andererseits steht die immer wieder eruptiv ausbrechende Wildheit für verlorene Verlusterfahrungen, die aus dem Bewusstsein geraten. Diese Erkenntnis kommt in der gesprochenen Sprache zwar nicht vor, kann aber durchaus als unausgesprochenes Zentrum definiert werden.

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Rund 68 Jahre später gibt es eine neue musikalische Fassung, die im voll besetzten Auditorium zum ersten Mal zu Gehör gebracht wird. Eine neue Version ist legitim, da Bachmann nicht zwingend vorschreibt, dass ausschließlich Henzes Musik bei Aufführungen erklingen dürfe. Obwohl sicher anzunehmen ist, dass seine Komposition nach Absprache mit der Autorin entstanden ist, öffnet sie folglich einer Neuinszenierung Tor und Tür bis hin zu einer völlig anderen Dramaturgie. Die Wuppertaler Geigerin und Bratschistin Gunda Gottschalk, auf dem Gebiet der frei improvisierten Musik weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, sowie der Tubist Carl Ludwig Hübsch verleihen dem Hörspiel musikalisch nun ein neues Gesicht. Zum einen ist die Orchesterbesetzung wesentlich kleiner: das zehnköpfige Zupforchester Chordofonia mit Gitarren und Mandolinen sowie je ein Tamburin, eine Tuba, eine Violine und von einem Musiker kreierte elektronische Klänge. Werden in der Urform die Insulaner inklusive Erzähler von acht Personen gesprochen, sind sie bei dieser Uraufführung auf vier Sprecher verteilt, die also Doppelrollen übernehmen. Sie – Luise Kinner, Miriam Vanneste-Vratz, Jochen Baur und Bernhard Glose – rezitieren und singen ihre Partien klar und deutlich, die Charaktere und Seelenzustände anschaulich vermittelnd. Die Instrumentalisten haben viel Freiraum, um musikalisch Stimmungsbilder zu untermalen, zu kommentieren oder zwischendurch den Zikadengesang immer wieder neu in leicht variierter Form zum Erklingen zu bringen. Es sind oft frei von tonalen Bezügen wenige Töne umfassende kleine Motive oder sehr hohe wie tiefe kleine Tonsplitter als Ausgangsmaterial, die kunstfertig ausgebaut beziehungsweise weiterentwickelt werden. Dabei paaren sich geräuschhafte Anteile mit modernen und klassischen Spieltechniken, die zu vielen Klangflächen beziehungsweise Klangebenen führen vom Aufschrei im Fortissimo bis hin zum elenden im Nichts landenden Lamentieren. Immer wieder sind es die Zupfinstrumente mit ihren oft glissandierenden Tremoli, die unerbittlich an die zirpenden Insekten gemahnen.

Das gebannt zuhörende Publikum zeigt sich hellauf begeistert und applaudiert dementsprechend langanhaltend ausgiebig. Hinsichtlich dieser neuen Form der Hörspielrealisierung hätte das Publikum bestimmt nichts dagegen gehabt, ein Programmhaft in den Händen halten zu können mit verständlichen Informationen über Inhalt und die Komplexität des Stücks. Stattdessen gibt es an der Abendkasse nur ein Blatt, auf dem die Namen der an der Produktion beteiligten Personen abgedruckt sind.

Hartmut Sassenhausen