O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christian Palm

Aktuelle Aufführungen

Eigenwillige Interpretation

TRISTAN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
22. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Historische Stadthalle Wuppertal

Klavierbearbeitungen beziehungsweise Klavierauszüge gibt es wie Sand am Meer. Nicht nur Komponisten, auch Tastenlöwen fertigten und fertigen sie an. Gerade in der sogenannten feinen Gesellschaft waren sie en vogue, als das Wort Hauskonzert ganz groß geschrieben wurde. Im Salon, in der guten Stube der hochherrschaftlichen Häuser und Wohnungen gehörte selbstredend ein Tasteninstrument mit zum Mobiliar, auf dem neben Werken für Klavier oder Harmonium solo auch Kammermusik und Sinfonien auf den 88 Tasten gespielt wurden. Das war richtig schick. Im Musikalienhandel gingen solche Versionen weg wie warme Semmeln. Richtig fleißig war Ferruccio Busoni. Auch der im Jahr 2016 gestorbene ungarische Pianist, Komponist und Dirigent Zoltán Kocsis bearbeitete Werke. Je eine Klavierfassung dieser Komponisten bringt Igor Levit mit in den nicht ganz ausverkauften Großen Saal der Historischen Stadthalle in Wuppertal im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr. Des Weiteren bleibt der überall hoch im Kurs stehende Pianist seinem Ruf treu, ungewöhnliche Programmzusammenstellungen zu präsentieren. Sie nehmen wenig Rücksicht auf tradierte Muster des Solorezitals, die in der Regel populäre Werke allseits bekannter Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Frédéric Chopin und Co. beinhalten.

Disparater könnte die erste Konzerthälfte wohl nicht sein. Los geht es klassisch mit Johannes Brahms, in dessen umfangreichem Oeuvre sich lediglich 15 Kompositionen für Orgel befinden. Sie sind gemeinsam mit den Vier ernsten Gesängen seine letzten Tonschöpfungen und wurden unter der Opuszahl 122 erst nach seinem Tod veröffentlicht. Sie schrieb er direkt nach dem Tod von Clara Schumann, mit der er eng befreundet war. So wundert es nicht, dass er überwiegend Melodien mit den Themen Tod und Ewigkeit verwendete. Auch war seine Lebenssituation nicht gerade glücklich, verstarben doch in den zurückliegenden Jahren seine Schwester und etliche Freunde wie Weggefährten. Und Symptome seiner Krankheit kamen zum Vorschein, an der er ein Jahr später starb. Sechs Stücke daraus – die Nummern 4, 5, 8, 9, 10 und 11 – transkribierte Busoni für Klavier. Die ihnen innewohnenden gedrückten Stimmungsbilder bringt Levit überzeugend zum Ausdruck. Dabei stehen schattierungsreiche Klangfarben im Vordergrund, die er dank seiner hochsensiblen Anschlagskultur aus dem Konzertflügel zaubert. Darunter und wegen des sehr starken Gebrauchs des rechten Pedals leidet nur die Darstellung der feinen Brahmsschen Kompositionstechnik mit den vielen Reminiszenzen an sein Vorbild Johann Sebastian Bach.

Dann gibt es einen harten Schnitt. Geplant war die Vorstellung von Variations on a Folksong aus dem Jahr 2021 des 1955 geborenen US-amerikanischen Jazzpianisten Fred Hersch. Er war in den letzten zwei Jahren fleißig und schrieb ein weiteres Klavierwerk: Songs Without Words Book II. Dieses sechsteilige Stück hob Levit drei Tage zuvor beim Lucerne Festival aus der Taufe. Die pianistisch nicht sonderlich anspruchsvollen sechs Teile lauten Little Nocturne, The Old Country, Canzona, The Two Minutes Waltz, Soliloqui und Coro del Carneval. Dabei handelt es sich um sehr gefällige Musik, tonal sehr einfach gehalten. Sie bringt Levit nun stattdessen als deutsche Erstaufführung zu Gehör. Hier kann man es sich nur gut gehen lassen in einer schönen, heilen Welt, in der es nur herrliche Träume, eine entspannte Atmosphäre gibt oder ausgelassen getanzt wird. Musikalisch gibt es viele Anlehnungen an gängige romantische Ideale oder hippe Unterhaltungsmusik der letzten Dekaden, die aber nur haarscharf am Eklektizismus vorbeischliddern. Levit scheint die Nummer sehr gerne zu haben, wie er bekundet. Deswegen habe er sich für die Programmänderung entschieden.

Nach der Pause lassen sich einige Zuhörer täuschen, die Richard Wagners Vorspiel zum Musikdrama Tristan und Isolde für Klavier transkribiert von Kocsis und Franz Liszts einzige Klaviersonate in h-Moll nicht genau kennen. Denn an Wagners Ende und Liszts Beginn stehen im Pianissimo beziehungsweise Piano die gleiche oktavierte Note G jeweils im Bass-Schlüssel. Wenn also, wie Levit es praktiziert, beide Werke ohne Vorankündigung übergangslos nacheinander gespielt werden, kann der Eindruck entstehen, es handelt sich um ein Stück, zumal die Liszt-Sonate einsätzig verfasst ist. Man kann getrost einmal darüber nachdenken und diskutieren, ob solch eine Zusammenlegung von kompositorisch und musikästhetisch unterschiedlichen Opera legitim sein könnte. Levits Zugang zu diesen beiden Stücken ist jedenfalls unterschiedlich. Abgesehen von sehr dezent, leise gehaltenen Pianostellen stellt er die Strukturen und den Aufbau im Tristan klar heraus. Den immens großen emotionalen Orchesterklang kann er aber bestimmt qua seiner hohen Anschlagskultur noch deutlicher vermitteln. Bei Liszt demonstriert er sein großes pianistisches Vermögen. Brillant gelingen ihm selbst die virtuosesten Passagen. Gefühlvoll kostet er die kantablen Stellen aus. Doch etliche Stellen kommen unscharf aus dem Instrument, da er wie zu Beginn des Konzerts das rechte Pedal zu undifferenziert benutzt.

Mit stehenden Ovationen wird Levit gefeiert. Dafür bedankt er sich mit den beiden letzten Nummern Kind im Einschlummern und Der Dichter spricht aus Robert Schumanns kleinen Klavierstücken Kinderszenen opus 15, die wie zarte Schlaflieder daherkommen.

Hartmut Sassenhausen