Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
QUEMPAS
(Diverse Komponisten)
Besuch am
10. Dezember 2022
(Premiere)
Jahrhunderte alte Brauchtümer werden immer weniger gepflegt und geraten somit nach und nach in Vergessenheit. Dazu gehört das Quempas-Singen, eine um das Jahr 1450 erstmals schriftlich überlieferte Tradition der Lutherischen Kirche. Der Quempas gehörte fest zur Weihnachtszeit. In der Christmette, auf Straßen und Plätzen erklang er. Früher weit verbreitet, nahm das Singen der Quempas-Weisen im Laufe des letzten Jahrhunderts stark ab. Nur noch hin und wieder sind sie heute zu hören. In Wuppertal ist jedoch der Wechselgesang der beiden Weihnachtslieder Quem pastores laudavere und Nunc angelorum Gloria – bekannt als Den die Hirten lobet sehre und Heut‘ sind die lieben Engelein – seit 1947 Kult. Ohne diesen Brauch würde in der Stadt in der Vorweihnachtszeit etwas Wesentliches fehlen. Hier ist allgemein bekannt, dass die weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Wuppertaler Kurrende am dritten und vierten Wochenende zu vier Quempas-Konzerten in vier Kirchen einlädt. Damit pflegt sie außerdem die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Kurrende, das sich aus dem lateinischen Wort currere – auf Deutsch laufen – herleitet. Anfangs war die Kurrende ein aus armen protestantischen Schülern bestehender Laufchor, der für Geld singend von Haus zu Haus zog. Heute sind mit dem Begriff generell Knabenchöre gemeint. Und der aus Wuppertal verlässt nicht nur zur Vorweihnachtszeit sein Kurrendeheim. Er ist auch über das Jahr verteilt in der ganzen Stadt unterwegs, um mit seinen Kirchengesängen Herz und Seele ihrer Mitmenschen zu erfreuen.
Ausverkauft ist natürlich die diesjährige Auftaktveranstaltung in der Lutherkirche im Ortsteil Ronsdorf. Auf die Minute pünktlich beginnt Kreiskantor Jens-Peter Enk mit dem Orgelvorspiel zu Gustav Brands Könige der Könige, worauf die Kurrendaner das Lied von den Seiten klangschön vortragen. Dann nehmen sie im Altarraum Aufstellung und stimmen immer wieder gerne zu hörende Weihnachtsklassiker wie Der Morgenstern ist aufgegangen, Wie soll ich dich empfangen, Fröhlich soll mein Herze springen und etliche mehr an. Außerdem singen die Zuhörer bei Macht hoch die Tür mit. Beste Weihnachtsstimmung wird auch bei modernen Weihnachtsliedern vermittelt, beispielweise der Vertonung von Weil Gott in tiefster Nacht erschienen des ehemaligen Kurrendeleiters Heinz-Rudolf Meier, Gloriosa dicta sunt von Vytautas und Eric Whitcares Lux aurumque.
Der Konzertchor zeigt sich unter der umsichtigen und mitatmenden Leitung seines neuen künstlerischen Leiters Lukas Baumann dabei bestens disponiert. Harmonisch, dynamisch fein ausgewogen und mit einem durchsichtigen Klangbild werden die stilistisch unterschiedlichen, überwiegend rein tonalen, mehrstimmigen Vertonungen mit und ohne Instrumentenbegleitung vorgetragen. Wenige kleine Unsauberkeiten und Unsicherheiten schleichen sich zwar ein, sind aber wegen der hochmusikalischen und sensiblen Gestaltung nicht von großer Bedeutung. Gerade die Tenöre und Bässe singen selbst komplexe Passagen mustergültig. Solistische Einlagen wie bei O Jesulein süß gelingen anrührend, strahlend klingen die Soprane, auch wenn sie in den ganz hohen Tongefilden ein wenig angestrengt sind. Von zwei Geigen, einer Bratsche, einem Cello und Enk am Orgelpositiv werden die Choristen routiniert begleitet. Auch die zeitgenössischen Vorspiele aus der Feder von Nikolaas Schmeer kommen sehr bewandert daher. Packend musiziert das Streichquartett die Pifa aus Georg Friedrich Händels Oratorium Messias und das meditative Traditional Now Found Is the Fairest of Roses.
Was anschließend, nach Johann Sebastian Bachs Ich steh an Deiner Krippen hier kommt, kennen die Wuppertaler ganz genau: den Quempas. Jetzt haben auch die Vorchöre ihren großen Auftritt. So, wie es überliefert ist, stehen an vier Plätzen an den beiden Seiten des Kirchenschiffs die kleinen Nachwuchssänger im weißen Pulli mit Kerzen in der Hand. Diese vier Chöre gestalten gemeinsam mit dem Konzertchor und der Gemeinde das Quempas-Singen: Die Kleinen singen im Wechsel je eine Zeile des ersten Liedes. Nach jedem Ende einer Strophe übernimmt der große Chor inklusive Orgel und Streicher mit dem zweiten Stück. Und die Gemeinde intoniert den Topus genannten Refrain. Die Kinder überwinden schnell das anfängliche Lampenfieber und sorgen mit den anderen Sängern für eine ergreifende Atmosphäre. Anschließend demonstrieren sie unter der engagierten und aufmunternden Anweisung ihrer Leiterin Hanna Ehnes im Altarraum vor den Großen ihre bereits für ihr Alter erworbene gute Gesangskunst. Das französische Traditional Engel auf den Feldern singen gelingt ihnen trotz ein paar verständlicher kleiner Probleme stimmungsvoll. Auch bei den abschließenden beiden Weisen Heilige Nacht und Leise rieselt der Schnee legen sie sich unter Baumann gemeinsam mit den anderen Kurrendanern mächtig ins Zeug.
Wie jedes Jahr steht zu guter Letzt O du fröhliche auf dem Programm. Keiner der Besucher lässt sich zweimal bitten und stimmt bei der dritten Strophe eifrig mit ein. Danach wollen die stehenden Ovationen nicht enden. Auch nach Wie schön leuchtet der Morgenstern als erste Zugabe ist die Begeisterung riesig. Als aber als zweites Dankeschön das Kyrie Eleison nahtlos ins Dona nobis pacem und schließlich Stille Nacht übergeht, erinnert man sich, dass diese Nummer immer der endgültige Schluss war und nun auch wieder ist. Das Publikum ist selig und weiß jetzt ganz genau, dass pünktlich am Heiligabend das Christkind da sein wird.
Hartmut Sassenhausen