O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Bandoneon zwischen Zitronen

PIAZZOLLA ZUM 100.
(Diverse Komponisten)

Besuch am
14. Juli 2021
(Premiere am 12. Juli 2021)

 

Landesjugendorchester NRW, Historische Stadthalle, Wuppertal

Ach, hätte Johann Wolfgang von Goethe doch einmal die Klappe gehalten. Musste er wirklich das Gedicht Mignon schreiben? Was wäre Italien alles erspart geblieben. So ist die Sehnsucht, die das Land in uns auslöst, ein saurer Geschmack auf der Zunge, weil jeder, der nach einer Umschreibung sucht, auf das Zitat vom Land, wo die Zitronen blühen zurückgreift. Kaum jemand weiß, mit welcher Herrlichkeit Goethe il bel Paese tatsächlich erfasst hat. Im dunklen Laub die Goldorangen glühen, ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, die Myrte still und hoch der Lorbeer steht – so geht es weiter bei Mignon.

Also versuchen wir es noch einmal. Nach Italien, in das Land, wo im dunklen Laub die Goldorangen glühen, lädt das Landesjugendorchester NRW sein Publikum an diesem Abend ein. Das klingt doch gleich viel besser. Das Elite-Orchester selbst sitzt dabei in einer der schönsten Spielstätten Deutschlands. Während über Nordrhein-Westfalen eine Sintflut nach der anderen herniedergeht, finden sich die Besucher in der Historischen Stadthalle in Wuppertal ein, um Astor Piazzolla zum 100. Geburtstag zu gratulieren. Am 11. März 1921 wurde Astor im argentinischen Mar del Plata als Sohn italienischer Auswanderer geboren. Grund genug für die Jugendlichen, als ersten Programmpunkt Igor Strawinskys Orchestersuite Pulcinella auszuwählen. Man kann ja die Zusammenhänge gar nicht weit genug herholen, um ein Konzertprogramm zu erstellen. In diesem Fall ein echter Gewinn. Wann hört man schon mal dieses originelle Stück?

Foto © O-Ton

Ende 1922 in Boston uraufgeführt, wurde die Suite 1949 und 1965 von Strawinsky noch einmal überarbeitet. Sie basiert auf dem neoklassizistischen Ballett, das 1920 zum ersten Mal in Paris gezeigt wurde. Mariano Chiacchiarini leitet die Nachwuchsmusiker im Alter zwischen 14 und 24 Jahren zu hellem, transparentem Klang an. Dabei ist es eine Freude, ihm bei der Arbeit zuzuschauen, wenn er sich jugendlich-frisch und sehr aufmerksam den Solisten zuwendet. Hier wird nicht „für die Galerie“ dirigiert, sondern eine partnerschaftliche Ebene angestrebt, die den Jugendlichen ganz offenbar Sicherheit verleiht. Ein schöner Einstieg, dem der eigentliche Höhepunkt des Abends folgt.

Aus Berlin ist der Komponist und Bandoneon-Spieler Omar Massa angereist. Gebürtig in Buenos Aires, gilt er als „Nachfolger Astor Piazzollas, dessen Werk er seit seinem sechsten Lebensjahr zur Aufführung bringt“. Bei der Suite Punta del Este, die jetzt zur Aufführung kommt, handelt es sich um ein Werk, das Piazzolla 1982 für Bandoneon und Orchester im Stil des Tango nuevo komponierte. Hier darf der Solist sich frei entfalten, wenn auch unter sichtbarer körperlicher Anstrengung. Die freilich hört man nicht, zumal das Orchester sich zurücknimmt und Massa zuarbeitet. So getragen, kann er den spezifischen Bandoneon-Klang wunderbar ausreizen. Und wenn Chiacchiarini sich zwischendurch entspannt zurücklehnt und die Augen schließt, um die Künste des argentinischen Kollegen auszukosten, kann man es ihm nur gleichtun.

Nach diesem Tango-Fest geht es zurück nach Italien. Oder zumindest das, was sich der deutsche Felix Mendelssohn Bartholdy musikalisch in seiner Sinfonie Nr. 4 aus dem Jahr 1833 darunter vorstellte. Und so beginnt das Orchester die Italienische mit seidenem Glanz in den Streichern. Mit großer Spielfreude zeigen die jungen Leute eine bewundernswerte Akkuratesse. Der junge Geiger, der zur Fliege die schwarzen Socken mit dem weißleuchtenden Logo eines Sportartikelherstellers trägt, unterstreicht dabei die Heiterkeit, die dem Werk zugrunde liegt. Bei so viel modischer Avantgarde bereitet das nuancierte Spiel gleich doppelt so viel Spaß. Und so wird das Publikum nach rund anderthalb Stunden nicht müde, dem musikalischen Nachwuchs und seinem musikalischen Leiter zu applaudieren.

Schön, dass Chiacchiarini zum Schluss zum Mikrofon greift, um sich beim Orchester für die gelungene Zusammenarbeit zu bedanken. Und er vergisst auch nicht, die internationale Zusammenarbeit von Komponisten und ausführenden Musikern zu betonen. „So bunt sind wir!“ ruft er aus, ehe das Orchester zur schwungvollen Zugabe ansetzt. Die kann, wenn in irgendeinem Konzert in Deutschland Piazzolla gespielt wird, eigentlich nur Libertango heißen, und so ist es auch in Wuppertal. Noch einmal kann das Orchester seine ganze Strahlkraft entfalten, bevor es das Publikum endgültig in den Dauerregen der Nacht entlässt.

Michael S. Zerban