O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Björn Hickmann

Aktuelle Aufführungen

Synästhetisches Musiktheater

OBSESSIONS
(Yiran Zhao)

Besuch am
3. Dezember 2022
(Premiere)

 

Bühnen Wuppertal, Opernhaus Wuppertal

Landauf, landab sind die Opernhäuser sehr gut besucht, sogar ausverkauft, wenn die Egerländer Welthits des Musiktheaters aus den Federn legendärer Komponisten gerade des 19. Jahrhunderts und rund zwei bis drei Dekaden später auf dem Programm stehen. Auch selten aufgeführte und wieder ausgegrabene Werke dieser Tonsetzer können Publikumsmagneten sein. Doch das Publikum, das sich dafür immer wieder begeistern lässt, hat überwiegend graumelierte bis schlohweiße Haare. Die Generationen nach ihnen haben mit solchen Programmen nicht sonderlich viel am Hut. Zu museal, konservativ sind für sie diese Stücke, auch wenn sie auf den Zeitgeist gemünzt inszeniert werden. Sie interessieren sich dagegen mehr für Kompositionen ab der Zeit der Zweiten Wiener Schule bis heute. Denn seitdem ist viel Neues geschrieben worden, hat der Opernstil sich weiterentwickelt, neue Wege eingeschlagen. Das weckt ihr Interesse. Man will up to date sein. Unter anderem findet die freie Kulturszene Zuspruch, weil dort auch das Moderne en vogue ist. Wollen also die altehrwürdigen Musentempel für alle Kulturfans da sein, müssen sie ihre Programmatik überdenken. Man bräuchte zwar dafür einen langen Atem. Dann könnten sie aber für alle lebendig sein, weil vom Vorurteil, Antikenmuseen zu sein, befreit. Klar sollen Donizetti, Rosini, Verdi & Co weiterhin auf die Bühne gehören, aber nicht als einzige Hauptsache.

Wuppertals Opernintendant Berthold Schneider hat den Mut dazu, etwas zu ändern, bietet unter anderem immer wieder Werke an, die in den letzten Jahrzehnten wegweisend waren und immer noch sind. Darunter befand sich erst kürzlich Luigi Nonos szenische Handlung Intolleranza aus dem Jahr 1960, die ein aufgeschlossenes Publikum ins Opernhaus lockte. Nun ist dort im Rahmen der Förderinitiative NOperas eine ganz aktuelle, außergewöhnliche Produktion zu erleben: Obsessions. Im Februar dieses Jahres am Theater Bremen aus der Taufe gehoben, ist das rund 70-minütige Musiktheaterprojekt in einer überarbeiteten Fassung quasi als zweite Uraufführung zu sehen und zu hören.

Beide Sinnesorgane, Augen und Ohren, werden in Anspruch genommen. Neben Tönen und Gesang spielen auch Sprache, Farben, Licht und Tanz gleichberechtigt eine große Rolle. Sie verschmelzen zu einer Einheit. Der Oberbegriff für solche Verbindungen ist Synästhesie. Berühmte Komponisten wie Franz Liszt, Olivier Messiaen, Jean Sibelius, Györgi Ligeti waren Synästheten. Alexander Skrjabin integrierte in das Orchester seiner Prometheus-Tondichtung ein Farbklavier, das die Musik illuminieren sollte. Wilfried Maria Danner schuf das rund 20 Jahre alte imaginäre Requiem Les couleurs de larc-en-ciel für Orgel, Tanz, Licht-Design und live-electronics – ein synästhetisches Musterbeispiel. Auch in Obsessions gehen die Sinnesempfindungen Sehen, Hören und Spüren eine Symbiose ein. Etwa wird darin gleich einer Supernova eine große, weiße Kugel auf eine große Projektionsfläche an der hinteren Bühnenwand projiziert. Sie verändert ihre Farbe in ein Glutrot und zerplatzt in sich stetig bewegende, verändernde, kleine Teile. Dazu kommen aus den Lautsprechern sich ebenfalls immer wieder neu formende elektronische Klänge. Beide Modalitäten interagieren miteinander. Die in China geborene, in Berlin lebende Komponistin Yiran Zhao und die Lichtdesignerin Meri Ekola sind hier dem synästhetischen Empfinden ganz dicht auf der Spur. Auch spielen Farben eine große Rolle. Die fernöstlichen Gewänder zu Anfang, danach die antike Kleidung und schließlich das sportliche Outfit sind einer großen Farbpalette entnommen. Tua Helve stellt sich damit als fantasievolle Kostümbildnerin vor. Dagegen ist die Bühne ganz in schwarz ohne schmückendes Beiwerk gehalten. Ganz links befindet sich das kleine Orchester, das sich aus Streichern ohne Kontrabass, Holz- und Blechbläsern sowie einem Schlagzeuger des Sinfonieorchesters Wuppertal zusammensetzt. Von Tobias Deutschmann versiert und umsichtig geleitet, spielt es sehr nuanciert auf.

Auf der Bühne agieren mit Sopranistin Rebecca Murphy, Mezzosopranistin Julia Reznik und Bass-Bariton Yisae Choi drei ausgezeichnete Sänger. Ihr Vortrag der frei erfundenen Operngesänge lassen dank ihrer tragfähigen und beweglichen Stimmen keine Wünsche offen. Hinzu gesellen sich vier Performer: Alice Ferl, Timo Fredriksson, Matthieu Svetchine und Annika Tudeer. Sie gehören dem seit 22 Jahren existierenden finnischen Performancekollektiv Oblivia an. Die Kompanie ist bekannt für die Verschmelzung von Körpersprachen, Sound und Licht mit minimalistischen Mitteln. Dieses Verfahren wird auch bei Obsessions angewendet. Inhaltlich geht es um menschliche Sehnsüchte, Zwangsvorstellungen, die Gier nach Macht oder das Sich-selbst-in-Szene-Setzen. Wer aber nach einer Handlung sucht, wird nicht fündig. Wer stark seine grauen Gehirnzellen in Anspruch nimmt, könnte sich aufs Glatteis begeben. Wer dagegen einfach die Aktionen der sieben Darsteller und die dazu passenden feinen, schlichten, vielschichtigen Klänge und Geräusche in Kombination mit korrespondierenden wie unterstützenden elektronischen Klänge von sanft-ruhig bis gewaltig-eruptiv auf sich einwirken lässt, kommt auch ohne leicht erfassbare Darstellungen aus.

Mit viel Humor inklusive einer gesunden Portion Ausdruckstanz werden die abstrakt dargestellten menschlichen Befindlichkeiten vermittelt, etwa im zweiten der drei großen Abschnitte. Zu synchronen Tanzschritten kommt allenthalben Bum chi chi, bum chi, bum chi chi, bum chi aus den Kehlen der sieben Akteure. Zwischendurch wird geplappert. Die Schritte werden immer schneller und man ruft: „I wanna be buried in a pyramid“ – Ich möchte in einer Pyramide bergraben werden. Witzig ist auch, wenn eine Person mit dem Hamlet-Zitat „To be or not to be“ loslegt, die anderen Protagonisten nacheinander mit einstimmen. Auch andere gesprochene Worte müssen nicht immer ernsthaft hinterfragt werden, wenn beispielsweise Floskeln, die mit „Wie geht’s“ beginnen, über die Bühne kommen. Ähnlich, als säße dabei der Schalk im Nacken, wird nach Art einer seriösen Nachricht das Aussteigen prominenter Persönlichkeiten aus einer Luxuslimousine geschildert, für die ein roter Teppich ausgerollt ist. Bei der sich anschließenden Party wird getänzelt, aufeinander zu und wieder auseinander. Eine Menge Kurzweil steckt auch dahinter, wenn man sich selbst inszeniert: „Ich bin arrogant und die Menschen sind besessen von mir“. Natürlich werden auch Diktatoren nicht vernachlässigt, aber ohne Rachsucht. Diese und andere menschlichen Geltungs- und Machtbedürfnisse werden also nicht mit dem erhobenen Zeigefinger an den Pranger, sondern spaßig zur Schau gestellt.

Bei den vielen Aktivitäten, kleinen und großen Szenen funktioniert stets die Interaktion der Bausteine Ton, Sprache, Kostüm, Bewegung und Licht bewundernswert einwandfrei. Auch die sieben Darsteller bilden gesanglich, sprachlich und tänzerisch eine kongeniale Einheit.

Leider befindet sich nur ein überschaubares, aber ein neugieriges und sehr aufnahmebereites Publikum im Parkett. Es zeigt sich begeistert von dieser neuen Sichtweise des Musiktheaters. Der langanhaltende Schlussapplaus spricht für sich.

Der Premierenabend zeugt davon, dass sich auch dieses Genre wie die anderen Kultursparten reine Musik, Schauspiel oder bildende Kunst seit Menschengedenken weiterentwickeln. Gehören nicht auch diese evolutionären Prozesse regelmäßig in den Musentempeln dazu, allgemein zugänglich gemacht zu werden? Es spricht viel dafür.

Hartmut Sassenhausen