O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Taue und Saiten

MOBY DICK
(Alexander Balanescu)

Besuch am
17. September 2021
(Premiere am 4. September 2021)

 

Riedel Communications, Halle V, Wuppertal

Gehen wir mal unvoreingenommen an die Geschichte heran. Da gibt es ein Unternehmen in Wuppertal, das sagt: Wir geben mal nicht nur Geld für die Kultur aus, damit andere damit glänzen können, sondern wir machen Kultur selbst. Wir haben die technischen und räumlichen Möglichkeiten, den Rest kaufen wir ein. „Natürlich“ gerät ein solches Unternehmen sofort unter Generalverdacht, die Kultur für seine Ziele „verraten“ zu wollen. Riedel Communications, nach eigenen Angaben Spezialist für Echtzeitübertragung von Großveranstaltungen, hat es trotzdem probiert. Und das Unternehmen hat sich dabei selbstverständlich des Rückhalts der Kultur versichert und mit den Wuppertaler Bühnen kooperiert. Was dabei herausgekommen ist, kann man sich derzeit in der Riedel-Halle V anschauen. Und das ist wirklich eindrucksvoll. Nicht annähernd könnte ein Stadttheater solch eine Produktion personell, technisch, räumlich oder auch finanziell stemmen. Bei halbwegs moderaten Eintrittspreisen. Mit Herman Melvilles Moby Dick ist fantastisches Theater entstanden – wenn auch mit kleinen Schwächen.

In der Bühnenfassung von Robert Sturm wird die neueste deutsche Übersetzung dieses Klassikers der Weltliteratur von Matthias Jendis verwendet. Das geht in Ordnung, und hier soll auch nicht die Diskussion über die Qualität der Übersetzung fortgeführt werden, die in den Literaturwissenschaften bis heute anhält. Viel interessanter ist, dass Sturm Schauspiel durch einen Erzählabend ersetzt. Eine Entwicklung, die derzeit Fuß zu fassen scheint, aber so nicht einen Deut besser wird. Der Zuschauer bekommt keine Handlung mehr zu sehen, sondern nur noch Darsteller in Tableaux, die das Publikum totquatschen. Dass sie sich dabei ein bisschen bewegen, ist schon Luxus. In Wuppertal wird das Manko dieser Fassung aber mehr als ausgeglichen.

Alexander Balanescu und Luise Kinner – Foto © O-Ton

Tony Cragg ist ein international bekannter Bildhauer. Den Wuppertalern ist er insbesondere bekannt, weil er 2006 einen 15-Hektar-großen, verwilderten Park im Stadtgebiet kaufte, um dort den Skulpturenpark Waldfrieden aufzubauen, der zwei Jahre später eröffnet wurde und sich inzwischen größter Beliebtheit erfreut. Viele Intendanten wissen inzwischen dank vernichtender Kritiken, dass es sich nicht unbedingt um eine gute Idee handelt, den berühmten Maler für das Bühnenbild oder die noch berühmtere Designerin für die Kostüme zu beauftragen. Bei Cragg allerdings darf so mancher studierte Bühnenbildner neidvoll über die Schulter schauen. Der Künstler bekam eine Halle zur Verfügung gestellt. Dort hat er zwei Tribünen versetzt aufgebaut, so dass jeder Zuschauer den bestmöglichen Blick auf die ebenerdige Bühne hat, egal, wo er sitzt. Beim Einlass müssen die Zuschauer durch das Bühnenbild schreiten, was den Zauber eigentlich noch steigert. Nach der Aufführung werden einige von ihnen sich die Bühne noch einmal ganz aus der Nähe ansehen. Vor den Tribünen ist mittig das imposante Modell eines Walfänger-Gerippes aufgebaut. Das eröffnet nicht nur zahlreiche Bespielmöglichkeiten, sondern auch durchaus die Assoziation zu einem Wal-Skelett. Boote, Kisten und Taue ergänzen die Spielfläche. Rechts und links ist Platz für das Orchester, das hier in Geigen und Bratschen auf der einen Seite, Celli, Kontrabasse und Schlagzeug auf der anderen Seite angeordnet ist. Auf einer Empore hoch oben links nimmt der dreiköpfige Chor Platz. Der Dirigent steht, kaum sichtbar, hinter dem gestalteten Holzgerüst, hat so Zugriff auf alle Beteiligten, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Solche Bühnen hat man in den besten Zeiten der Ruhrtriennale gesehen. Aber auch dort sind sie selten geworden. Ermöglicht wird die Gestaltung durch die komplette Mikrofonierung aller Beteiligten, für die Will-Jan Pielage zuständig ist. Dass sich ausgerechnet hier eines der größten Mankos darstellt, sorgt mindestens für ein Lächeln, aber auch für Verwirrung. Denn die Mikrofonierung der Darsteller wird nicht fokussiert, also nicht räumlich zugeordnet, und so muss man den jeweils Sprechenden immer erst herausfinden. Da entgehen den Besuchern viele wertvolle Zeilen Melvilles, weil die Konzentration unwillkürlich nachlässt. Zumal die Balance zwischen Musik und Sprache nicht immer ganz stimmig ist. Besser gelingt da Fredy Deisenroth das Lichtdesign, das beträchtlich zum Stimmungsaufbau beiträgt und die Kostüme von Aniko Elias wunderbar zur Geltung kommen lässt. Elias kleidet die „bärbeißigen Seeleute“ stilgerecht ein, so dass ein jeder versteht, dass Walfang kein Spaziergang auf dem Boulevard ist, sondern etwas für „echte Männer“, die in der für die damalige Zeit – die Geschichte spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts – ausgesprochen praktischen Bekleidung eine Notwendigkeit und keine Lust sahen.

Foto © O-Ton

In diesem absolut stimmigen Ambiente dürfen sich die „Seebären“ ausleben. Die Besetzung ist erlesen und mutig. Mit Bernd Kuschmann, Jörg Reimers und Pierre Siegenthaler stehen Männer mit Lebenserfahrung auf der Bühne, bei denen man nicht einen Moment nachfragt, ob sie schon mal einen Walfänger gesehen haben. Die haben ebenso wie die Tänzer Mark Sieczkarek, Ed Kortlandt, Jan Minarik und Jean Laurent Sasportes alle schon mal im Sturm des Lebens gestanden. Das ist so authentisch, dass die Maske hier kaum noch Hand anlegen muss. Graue Bärte, verhärmte Gesichter und durchtrainierte Körper, die das Feuer der Desillusionierung längst hinter sich gelassen haben, überzeugen mehr als jedes Drehbuch. Für die Rolle des Ismael ist Luise Kinner nichts anderes als eine Idealbesetzung. Auch sie begeistert nicht nur mit Ausstrahlung, sondern wie ihre Kollegen auch mit brillanter Textkenntnis und -gestaltung. Nicht nur ihr Monolog zur Farbe Weiß – eine der berühmtesten Stellen in Melvilles Roman – gerät zum Meisterstück. Dass die Schauspieler immerhin bei den Tableaux-Wechseln ein wenig Spielfreude beweisen können, trägt zur Abwechslung bei.

Was das Stück endgültig nicht nur rettet, sondern zu einem besonderen Erlebnis macht, dass die Besucher lange nicht vergessen werden, ist die Musik von Alexander Balanescu. Früher hätte man das, was an diesem Abend spannungsreich, bunt und virtuos vorgetragen wird, wohl ein wenig abfällig mit dem Begriff Programmmusik beschrieben. Heute darf man das, was Balanescu komponiert hat, schlicht als großartig bezeichnen. Unter der Leitung von Werner Dickel wächst das Schönberg-Ensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Wuppertal, über sich selbst hinaus. Die Streicher und der Schlagzeuger Franz-Josef Staudinger interpretieren Balanescu aufregender als Filmmusik. Es ist Sturm hoch anzurechnen, dass er der Musik ausreichend Platz einräumt, die über das für das Schauspiel Notwendige hinausgeht. Und eine der stärksten Stellen des Abends ist das Violin-Solo, das Balanescu selbst interpretiert. Abgerundet werden kann der Abend noch durch Anna Christin Sayn, Hasmik Muradyan und George Clark, deren Choreinsätze dem Stück das Sahnehäubchen aufpfropfen.

Das Publikum in der gut besuchten Halle hält die zwei Stunden gebannt durch, um sich anschließend bei allen Beteiligten mit dem höchstmöglichen Applaus zu bedanken. Trampeln, Bravo-Rufe und Klatschen im Stehen nehmen kein Ende. Wohlgemerkt in der achten Vorstellung des Stücks. Wer eine ästhetisch beeindruckende Bühne, Ausnahmeschauspieler, packende Musik und eine wunderbare Atmosphäre erleben will, hat dazu noch an diesem Wochenende Gelegenheit.

Darf also ein Unternehmen der Privatwirtschaft Kultur selbst in die Hand nehmen? Mit dem ausreichenden Verantwortungsbewusstsein: ja. Und dass es funktioniert, hat Riedel Communications bewiesen. Nach Moby Dick ist jetzt schon spannend, ob das Unternehmen noch einmal das Wagnis eingehen wird – und ob sich möglicherweise Nachahmer finden. Das könnte die gesamte Theaterlandschaft verändern.

Michael S. Zerban