Kulturmagazin mit Charakter
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MESSE FÜR ORGEL, BIGBAND UND CHOR
(Geir Lysne)
Besuch am
28. Oktober 2023
(Einmalige Aufführung)
Wer fest davon überzeugt ist, bei Bigband-Konzerten geht immer so richtig die Post ab, hat sich gewaltig in den Finger geschnitten. Ja, fette Bläsersätze, virtuos-fetzige Klänge aus dem Piano und der Gitarre, satte Basstöne und ein groovendes Drumset kommen richtig gut an. Doch beim Abschlusskonzert des kleinen dreitägigen Festivals Immanuel Goes Bigband in der Immanuelskirche im Wuppertaler Stadtteil Oberbarmen kann von all dem so gut wie keine Rede sein, wenn sich die Bigband des Norddeutschen Rundfunks die Ehre gibt und trotzdem für einen umwerfenden Abend sorgt.
Die vier Bigbands der ARD – also die des SWR, HR, WDR und NDR – sind qua ihres hohen Niveaus weit über die Staatsgrenzen hinaus bekannt. Manche verwöhnte US-Amerikaner ziehen sogar den Hut vor ihnen. Jede Formation pflegt ihren eigen Stil, der projektbezogen variieren kann. Als der norwegische Jazzmusiker und Komponist Geir Lysne 2016 Chefdirigent der NDR-Bigband wurde, brachte er seine individuelle Musiksprache mit, die wohl schwer in ein gängiges Genre einzuordnen ist. Klassik, Jazz, traditionell, avantgardistisch, experimentierfreudig, grenzüberschreitend könnten die Worte sein, um seine mannigfaltigen musikalischen Ausdrucksformen ungefähr zu beschreiben. Also: Steht er am Dirigentenpult und auf den Notenpulten liegen Noten seiner Arrangements und Kompositionen, ist Schluss mit satten Bigband-Klängen.
Foto © Karl-Heinz Krauskopf
In die Immanuelskirche bringt er seine jüngste Tonschöpfung mit: eine Messe für Orgel, Bigband und Chor. Entstanden ist sie im Hinblick auf den Westfälischen Frieden, der sich wenige Tage zuvor am 24. Oktober zum 375. Mal jährte. Doch das rund 90-minütige Werk verarbeitet nicht Vergangenes. Vielmehr beschäftigt es sich grundsätzlich mit der Frage, warum es nach wie vor kein leichter Spaziergang ist, Frieden zu erreichen. Mit dieser Thematik beschäftigten sich im Vorfeld Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen eines Gedichtwettbewerbs. Aus über 170 Gedichten wurden zwei ausgewählt, die Lysne in sein Opus mit einfließen ließ. Bevor sie gesungen werden, rezitiert sie zum besseren Verständnis eine junge Choristin mit klarer Stimme:
Die 17-jährige Juliane Hammon aus Groß Potrems verfasste das Gedicht Der Löwenzahn: „Im Staub erstickend / Mit Dreck beladend / Von Schuh’n zertreten. / Aber tief verwurzelt, / Wer gräbt, der findet. / Den Ursprung des Glücks: / In gelben Blüten, / In zarten Samen. / Verfliegen weltwärts. / Keimen zum Bleiben.“
Frieden weggenommen lautet die Überschrift der Zeilen der ebenfalls 17-jährigen Hanan Bazid aus Lohne: „Wir spielten auf der Straße. / Und auf dem Heimweg, / hatten wir immer ein großes Lächeln. / Wir wussten das zu schätzen, was wir hatten. / Denn wir hatten uns. / Doch mit der Zeit habe ich viele Freunde und Familie verloren, / verloren durch den Krieg. / Ich habe mein Lächeln und meine Hoffnung / verloren, denn sie haben uns den Frieden genommen.“
Das Stück beginnt mit einem ausgedehnten, ruhig-kontemplativ gehaltenen Orgelsolo. Es ist Florian Weber, der den Pfeifen der Schuke-Orgel des Hauses innige Klänge hervorlockt, die dazu einladen, zur Besinnung zu kommen, innezuhalten. Außerdem reizt das feste Mitglied der NDR-Bigband die 54 Register des Instruments voll aus, kombiniert sie mannigfaltig, als er zwischen den beiden Gedichtvertonungen und zum Schluss seine ebenfalls umfangreichen Soli hochmusikalisch, einhergehend mit einer Vielzahl an virtuosen Finessen, außerordentlich packend gestaltet. Er beherrscht die ganz große Kunst, klassische Musikformen vom Barock bis zur avantgardistischen Moderne und tradierten wie frei improvisierten Jazz höchst schlüssig miteinander zu kombinieren.
Foto © Karl-Heinz Krauskopf
Für nahezu kammermusikalische Klänge sorgen seine 17 Kollegen unten auf der Bühne. Sie nehmen in Form eines „U“ Aufstellung. Links sitzen die Holzblasinstrumentalisten, ihnen gegenüber die Trompeter und hinten die Posaunisten sowie links daneben der Kontrabassist. In der Mitte nehmen die Gitarristin und der Perkussionist Platz. So können alle miteinander in Blickkontakt treten und aufeinander achten. Das ist insofern wichtig, weil jedes Bandmitglied, abgesehen von einem nur maßvollen Tuttispiel, als Solist oder im Duett musiziert. So ist eine ausgesprochen klangfarbenreiche, fein ziselierte Komposition zu hören, die wie die Orgelmusik Grenzen überschreitet, Stile aus Jazz und Klassik gleichberechtigt vorkommen. Auch selten verwendete Klangmischungen, etwa die aus die Querflöte, Klarinette und Saxofon, lassen aufhorchen.
Hinzu gesellt sich hinter der Bigband ein von Clemens Breitschaft vorzüglich einstudierter Projektchor. Er setzte sich aus Mitgliedern des Osnabrücker Jugendchores, der Jugendkantorei St. Matthäus Melle sowie der Kantorei Barmen-Gemarke zusammen. Dem jungen Alter angemessen sind die Gesänge einstimmig, dennoch sehr ergreifend. Sie gehen wie manche Worte, die gesprochen, getuschelt oder geseufzt werden, mit den Instrumentalklängen eine ideale Symbiose ein.
Der hohe emotionale Gehalt des Werks, das Changieren zwischen andächtiger Ruhe und lauter Auflehnung mit allen Zwischentönen spiegelt wohl die ganze Problematik wider, die die Auseinandersetzung und Probleme mit dem Frieden mit sich führen. Von dieser außergewöhnlichen Messe und den erstklassigen Musikern wie dem hohen gesanglichen Niveau unter Lysnes umsichtiger Leitung zeigt sich das aufgeschlossene Publikum begeistert. Verdientermaßen spendet es langanhaltenden Beifall, der in stehende Ovationen mündet.
Der Abend ist ein Wuppertaler Höhepunkt in Sachen Bigband-Klang, der zu neuen Ufern aufbricht.
Hartmut Sassenhausen