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Aktuelle Aufführungen

Musikalische Strukturen vom Feinsten

LEBENSREISE
(Jean-Féry Rebel, György Ligeti, Bernd Alois Zimmermann)

Besuch am
3. April 2023
(Premiere am 2. April 2023)

 

Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal

Einen ganz neuen Weg beschreitet das Sinfonieorchester Wuppertal anlässlich seines achten städtischen Konzerts dieser Spielzeit mit dem Titel Lebensreise. Denn es bietet ausschließlich Kompositionen, deren Noten in seiner Geschichte bis dato noch nie auf seinen Pulten lagen. Bei zwei Werken aus der siebten und achten Dekade des letzten Jahrhunderts wundert es, gehören sie doch allenthalben inzwischen zum allgemeinen Orchesterrepertoire. Galten sie zur Zeit ihrer Entstehung mit zur Avantgarde, sind deren Klänge und Strukturen heute nach über einem halben Jahrhundert für Freunde moderner Musik nichts Neues mehr. Aber nun pflegt das Orchester dankenswerterweise auch solche Literatur.

Doch auch bereits im Zeitalter des Barocks wurden Tonfolgen oder Klänge angeschlagen, die damals hypermodern waren. Manche sprechen sogar davon, sie seien ihrer Zeit um sehr weit voraus gewesen. Allgemein bekannt dürften chromatische Tonleitern sein wie die absteigende Skala im königlichen Thema aus dem musikalischen Opfer Johann Sebastian Bachs. Oder Jean-Féry Rebel. Sein heute weitgehend unbekannter Zeitgenosse kann getrost als Erfinder des Clusters gelten. Der französische Violinist und Hofkomponist, unter anderem bei Jean-Baptiste Lully in die Lehre gegangen, schrieb etliche Werke für Geige und andere Werke wie Ballette, Chansons und szenische Sinfonien. Sein an diesem Abend aufgeführtes bekanntestes Opus Les Éléments beginnt mit solch einem Klanggebilde, dessen Töne ganz nahe beieinander liegen. In diesem Fall besteht zu Beginn des Anfangssatzes mit dem passenden Namen Le cahos die Tontraube aus allen Tönen der harmonischen Molltonleiter, indem zwei Akkorde miteinander verschränkt werden. Mächtig, wie in Stein gemeißelt sollen die ersten sieben Takte dastehen, um das chaotische Wirken der vier Naturelemente Luft, Wasser, Erde, Feuer darzustellen, bevor sie ihren nach den unveränderlichen Naturgesetzen richtigen Platz bezogen. Dieser Zustand orientiert sich ganz nach den damals üblichen kosmologischen Vorstellungen, die ihre Wurzeln in der Antike haben. Musikalisch soll es hier also richtig zur Sache gehen. Das städtische Orchester beschränkt sich aber unter der Leitung von Generalmusikdirektor Patrick Hahn mit einer weich-sonoren hin zur dumpfen Tongebung auf eine eher für die Trommelfelle angenehme Laustärke. Nachdem sich im weiteren Verlauf der sieben nahtlos ineinander übergehenden Abschnitte dieses Prologs alles nach und nach zur Ordnung gefügt hat, geht es gleich einer Suite galant mit neun Tanzsätzen weiter, wie sie bei Hofe en vogue waren. Dementsprechend schwungvoll spielen dabei die Sinfoniker in unterschiedlichen Besetzungen auf, ohne allzu sehr auf einen schlanken Gesamtklang im Tutti zu achten. Dem nähert man sich üblicherweise an, wenn zumindest teilweise eine historische Aufführungspraxis angestrebt wird. Richtig schön locker wird aufgespielt, als der Tanz Tambourins I & II wiederholt wird.

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György Ligetis Atmosphères kann als Klassiker der Moderne bezeichnet werden. Direkt nach der Uraufführung anno 1961 sorgte das kurze Stück für Furore. In aller Mund war es, als es im Science-Fiction-Klassiker 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahr 1968 verwendet wurde. Neu war damals, dass die Musik schwebt, nicht festgesetzt, fast konturlos ist, ineinander übergeht. Dabei kommt ein ganz normales Orchester mit 87 Streichern und Bläsern, ohne Schlagzeug mit Klavier zum Einsatz. Sie spielen ganz normale Töne bis auf geräuschhafte Anteile wie das Streichen von Klaviersaiten und reine Luftgeräusche der Blechblasinstrumente. Nur wird der Klangkörper außerordentlich nuanciert verwendet, indem jedes Instrument einzeln – und nicht wie gewohnt in Gruppen – notiert ist. So spielen etwa die Geiger nicht nur im Unisono, sondern auch jeder einzelne Instrumentalist individuell seine eigene musikalische Linie. Ligeti hat oft betont, dass diese Musik hinsichtlich Glissando und Artikulation ohne seine Erfahrungen im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln nicht zustande gekommen wäre. Unter dem exakt schlagenden und Einsätze gebenden Dirigat Hahns werden zwar die Überlagerungen etlicher unterschiedlicher Bewegungen hin zu statischen Flächen, die kontinuierlich fließen und verändern, verständlich dargestellt. Doch die ganz feingliedrige Behandlung des Streicherapparats kommt zu verhalten im Pianissimo so gut wie überhaupt nicht hörbar von der Bühne, sodass die kleinen klanglichen und strukturellen wichtigen Veränderungen innerhalb dieses Gefüges nicht ausgedrückt werden.

Bernd Alois Zimmermanns ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bariton und Orchester Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne wird mittlerweile immer öfter auf Konzertprogramme gehoben. Lange war es um den Komponisten nach seinem Freitod im Jahr 1970 still, da seine Werke schwer zugänglich erschienen, weil sie sehr komplex seien. Seine heute bekannte Oper Die Soldaten galt seinerzeit als unspielbar. Doch sind heute die Ohren offener, neugieriger geworden. So kann das Werk, das er fünf Tage vor seinem freiwilligen Lebensende abschloss und mit dem Zusatz Omnia ad majorem dei gloriam – alles zur höheren Ehre Gottes – versah, jeden in seinen Bann schlagen, wenn es wie hier im Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal außerordentlich intensiv und dicht aufgeführt wird. Für den Komponisten war die Musik am Ende angekommen. Sie habe das wesentliche Dasein für die Menschheit verloren. Sie werde politisch ideologisiert, verharmlost und nur noch konsumiert. „Ich kann nicht mehr komponieren“, konstatierte er im Frühjahr 1970. Seine Depressionen wurden immer stärker. Seine Sehkraft verschlechterte sich rapide. Ein letztes Mal setzte er sich ans Notenpapier. Noch einmal verwendete er seine faszinierende Collagetechnik und verwendete Zitate. Für das Werk gebrauchte er die Zwölftonreihe aus Luigi Nonos Il canto sospeso – der aufgehobene Gesang. Dabei handelt es sich um die Vertonung von Abschiedsbriefen von Widerstandskämpfern, die von den Faschisten ermordet wurden. Oder die rhythmische Struktur beruht auf der Zahl 7. Damit wird eine Beziehung zur Offenbarung des Johannes hergestellt, das Buch mit sieben Siegeln.

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Vor allem sind es Wuppertals Schauspielintendant Johannes Braus und Ensemblemitglied Thomas Walz, die dank ihrer hohen Rezitationskunst die Texte aus dem vierten Kapitel des Predigerbuchs der Bibel und Fjodor Dostojewskis Die Brüder Karamasow ungemein packend vortragen. Gesanglich steht diesen hohen Qualitäten Bariton Bo Skovhus in nichts nach. Seine tragfähige und wandelbare Stimme spürt der ganzen Tragik bis hin zum finalen Weh dem, der allein ist! zutiefst ausgelotet außerordentlich packend nach. Dazu korrespondiert, interagiert, kontrastiert das Sinfonieorchester unter Hahns umsichtiger Leitung sehr sensibel und ausgewogen bis auf wenige zu laute Abschnitte im Tutti, die den Sänger ein wenig übertönen. Die Aufführung hat Valentin Lewisch etwas in Szene gesetzt, indem in dem dunklen Raum auf dem Chorpodium zwei schwarz gekleidete Damen in Zeitlupe an einem Lebensbaum herumhantieren und Walz dort ganz oben rechts Aufstellung nimmt, während der Tradition entsprechend Braus und Skovhus links und rechts neben dem Dirigentenpult stehen. Endzeitstimmung macht sich außerdem breit, als beide Sprecher zum Schluss mit je einem Henkerstrick hantieren und ihn sich um den Hals ziehen.

Als schließlich die Blechbläser hinten von der Empore den von Zimmermann mit hineinkomponierten Choral Es ist genug; Herr, wenn es Dir gefällt, so spanne mich doch aus von Johann Sebastian Bach intonieren und die rund 35 Minuten mit einem lauten Klagen enden, ist es für eine kleine Weile still im Auditorium. Dann werden alle an dieser Aufführung Beteiligten zu Recht mit langanhaltendem Beifall gebührend gefeiert.

Hartmut Sassenhausen