O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Aktuelle Aufführungen

Jazz vom Feinsten

FRESH START
(Marshall Gilkes)

Besuch am
11. November 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Immanuelskirche, Wuppertal

Die Immanuelskirche ist ausverkauft“. Karl-Heinz Krauskopf vom Vorstand des Fördervereins Kulturzentrum Immanuel ist sichtlich richtig glücklich. Und der Veranstalter kann außerdem stolz darauf sein, mit dem Titel Immanuels Goes Bigband nach der Sommerpause eine neue Konzertreihe ins Leben gerufen zu haben, die auf Anhieb auf großen Zuspruch stößt. Gerade in Zeiten nachlassender Publikumsresonanz ist diese Erfolgsbilanz eine absolute Ausnahme. Das kommt nicht von ungefähr, legt man doch Wert auf hohe Qualität. Sorgten seit September bereits die Auftritte des Jugendjazzorchesters NRW sowie die Bigbands aus Dorsten und Mülheim für große Begeisterung, ist nun die WDR Big Band aus Köln in den Wuppertaler Ortsteil Oberbarmen gekommen. Sie ist für den krönenden Abschluss dieses Jahres zuständig. Eine Eintagsfliege ist das Projekt aber nicht, soll es doch im kommenden Jahr zu einer Neuauflage kommen.

Die WDR Big Band spielt die gesamte Bandbreite des Jazz bis hin zur Avantgarde und die jazzverwandte Musik auf allerhöchstem Niveau. Das Wort Weltklasse ist in diesem Zusammenhang überall in aller Munde. Drei Grammys heimste sie bisher ein. Selbst die in Sachen Jazz verwöhnten US-Amerikaner ziehen vor ihr den Hut. Topmusiker dies- und jenseits des Großen Teichs reißen sich darum, mit ihr zusammenzuarbeiten. Lang ist die Gästeliste. Darunter sind bekannte Namen wie Paquito D’Rivera, Joe Zawinul, Ron Carter, Maceo Parker, Bill Evans, Lalo Schifrin, Bill Dobbins und Peter Erskine.

Dieses Mal steht Marshall Gilkes vor der Band. Der Posaunist aus den USA war bis Ende 2013 vier Jahre lang ihr festes Mitglied, kommt aber immer wieder aus den Staaten zurück. Zehn Eigenkompositionen jüngeren Datums plus den Standard This Nearly Was Mine aus dem Musical South Pacific von Richard Rogers und Oscar Hammerstein aus dem Jahr 1949 hat er jetzt mit im Gepäck. Damit stellt er sich als ein erstklassiger Arrangeur vor. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk auf den Umgang mit den Bläsern. Im Tutti dominieren satte Klänge. Kammermusikalisch kombiniert er etwa die Trompete mit dem Saxofon. Das hat packende klangliche Reibung zur Folge. Auch die wie Kontrapunkte wirkenden Querflötentöne zum brillanten Flügelhornsolo im erwähnten Standard sind ein Zeugnis seiner genialen Klangschöpfungen. Geschickt setzt er Klarinetten und Querflöten ein, die für warme, weiche Klangteppiche als Kontrast zu forschen Blechbläsern sorgen. Das ständige Changieren der Klangfarben vom energischen Fortissimo und den gestochen scharfen fill ins der Trompeten bis hin zu sensiblen, federleichten Pianopassagen packt, zieht in den Bann. Da also der Schwerpunkt auf den Bläsern liegt, wird in der Rhythmusgruppe die eigentlich obligatorische Gitarre nicht vermisst.

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Inspirieren ließ sich Gilkes unter anderem von seinen beiden kleinen Kindern. Die Nummern Longing for Home oder Sugar Rush sind so entstanden. Auch macht er sich Gedanken um die schrecklichen Tragödien in seiner Heimat wie den Gebrauch von Schusswaffen in Schulen. So kam es zu My Unanswered Prayer, in dem viel Wehmut zum Ausdruck kommt. Oder das Stück Fresh Start, zugleich Titel des Abends. Der Name ist Programm: Auf geht es nach der langen Coronapause mit einer positiven Einstellung nach vorne. Bei diesem ersten Stück des Abends wird auch direkt frisch und munter aufgespielt. Hier wie unter anderem auch bei Sin Filtro ist Gilkes nicht nur ein zuverlässiger Bandleader, sondern auch ein genialer Posaunist. Spieltechnisch macht ihm so schnell niemand etwas vor. Seine wieselflinken Tonrepetitionen und Läufe in allen und durch alle Tonlagen, einhergehend mit abrupten Dynamikwechseln sind jedoch kein Selbstzweck, sondern stehen stets im Dienst seiner emotionalen Musikgestaltung, die von melodischer Lyrik bis hin zu eruptiven Ausbrüchen reicht. Diesen hohen solistischen Qualitäten stehen die Bandmitglieder in nichts nach. An Trompeten, Posaunen und Reeds – der Oberbegriff für die Rohrblattinstrumente, hier Querflöte, Klarinette und Saxofon – glänzen die Vollblutmusiker ausnahmslos mit extrem virtuosen und hochmusikalischen Soli. Auch Kontrabassist John Goldsby und Pianist Billy Test entlocken ihren Instrumenten atemberaubende solistische Einlagen, während Hans Dekker am Schlagzeug für ein gediegenes rhythmisches Fundament sorgt. Auch das Zusammenspiel der Big Band kommt wie aus einem Guss von der Bühne mit großer Intonationsreinheit und Homogenität innerhalb der einzelnen Orchestergruppen. Etwa klingen bei Middle Ground die Posaunen stellenweise wie ein einziges Instrument. Chapeau.

So ist es kein Wunder, das es schließlich niemanden mehr auf den Sitzen hält. Für die verdienten stehenden Ovationen bedanken sich Gilkes und die WDR Big Band mit Cyclic Journey aus Gilkes Feder. Blumen als Dankeschön seitens des Veranstalters an die Musiker sind im klassischen Konzertbestrieb immer noch üblich. Damit können nur Jazzer herzlich wenig anfangen. Selbstredend ist das dem Förderverein bekannt. Also wird Wupperwasser – Sekt mit der Schwebebahn als Logo auf der Flasche – verteilt.

Zweifelsohne ist dieser Abend ein großer Höhepunkt im diesjährigen Wuppertaler Jazzleben. Die Fans würden sich freuen, wenn es nicht das letzte Gastspiel ist. Aber auch die Kollegen des Südwestrundfunks und des Hessischen Rundfunks sind richtig gut, brauchen sich wahrlich nicht hinter den Qualitäten der WDR Big Band zu verstecken.

Hartmut Sassenhausen