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Großartige Visitenkarte

FACETTEN DER ROMANTIK
(Krzysztof Meyer, Johannes Brahms, Franz Schubert)

Besuch am
17. Oktober 2022
(Wiederholung vom 16. Oktober 2022)

 

Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal

In der Klassikszene hat der Name Jurowski seit Jahrzehnten einen ausgezeichneten Ruf. Wladimir Michailowitsch Jurowski, Abkömmling einer jüdischen Familie und 1972 in Moskau gestorben, war ein anerkannter ukrainisch-sowjetischer Filmkomponist. Sein Sohn, der russische Dirigent Michail Wladimirowitsch, starb im März dieses Jahres in Berlin. Er wanderte 1989 mit seiner Familie nach Deutschland aus. Im In- und Ausland leitete er berühmte Orchester. Sein Name war in aller Munde. Nun sind es seine beiden Söhne, die die Bühnen, die die Welt bedeuten, erobern. Der erste heißt wie sein Großvater Wladimir Michailowitsch. Er ist seit 2017 als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin tätig und wurde zusätzlich im letzten Jahr zum Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper berufen. Bis dahin war er für zehn Jahre in Moskau Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands. Am 21. Oktober 2021 bezog er in einem Interview klar Stellung zur politischen Situation in seinem Geburtsland: „Bei Wladimir Putins Geburtstag habe ich bis jetzt nicht dirigieren müssen und werde das auch nie tun.“ Und weiter: „Mich verbindet mit dem Regime gar nichts.“ Schon damals waren ihm die dramatischen Zustände bewusst: „Ja, es herrscht Krieg zwischen der Ukraine und Russland, und zwar ein richtiger Krieg und ein Medienkrieg. Die staatlichen Medien sprechen nur in negativen Tönen über die Ukraine und ukrainische Künstler. Aber unter den normalen Bürgern und sogar im Musikbetrieb erklingt die ukrainische Musik nach wie vor. Da hat sich eigentlich nichts verändert, und das finde ich gut. Genauso wie hoffentlich in der Ukraine immer noch Tschaikowsky und Mussorgsky und Schostakowitsch gespielt werden. Ich finde, da wo Krieg herrscht, müssten wir Musiker dafür sorgen, dass die Vernunft und die allgemeinen menschlichen Werte nach wie vor die Oberhand gewinnen.“ Auch sein jüngerer Bruder Dmitri Michailowitsch hat den Beruf des Dirigenten ergriffen, war ebenfalls in Moskau und zusätzlich in Nowosibirsk tätig, also seinem Heimatland treu. Dorthin zieht es auch ihn derzeit logischerweise bis auf Weiteres nicht. Die Geschwister sind ein kleines Beispiel dafür, wie der russische Präsident die diesseits und jenseits der Grenze lebende Bevölkerung beziehungsweise russischer Abstammung auseinanderdividiert, nicht mehr zueinanderfinden können respektive dürfen. Dass die Brüder stattdessen in anderen Ländern an berühmten Spielstätten gut zu tun haben, ist vielleicht nur ein schwacher Trost. Nach 2017 kommt Dmitri Jurowski nun zum zweiten Mal in die Historische Stadthalle Wuppertal, um unter dem Titel Facetten der Romantik mit zwei romantischen Werken und einem dazu passenden modernen Stück das zahlreich erschienene Publikum zu erfreuen.

Unerbittlich beginnt die Pauke, drängend zu hämmern. Mächtig kommen die Streicher und Bläser fast in Originalgestalt dazu, wie sie aus dem Beginn der ersten Sinfonie von Johannes Brahms bekannt sind. Es ist der Anfang der Hommage à Johannes Brahms des zeitgenössischen polnischen Komponisten Krzysztof Meyer aus dem Jahr 1982. Dann kommen Töne, die die Buchstaben B-R-A-H-M-S als Vorbild haben. Es folgen mannigfaltige Veränderungen hinsichtlich Orchestrierung, Dynamiken und Tempi in Form von Collage, Aneinanderreihung, Überlagerung bis hin zum brachialen Ausklang im Fortissimo. Straff, mit festem Zugriff, kultiviert-klanggewaltig wie sensibel im Piano lässt Jurowski das Sinfonieorchester Wuppertal dieses Opus 59 spielen, das es sehr differenziert zum Erklingen bringt.

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Konsequent folgt Musik des großen Romantikers Brahms: die Variationen über ein Thema von Haydn. Hier legt Jurowski viel Wert auf eine Durchhörbarkeit der musikalischen Strukturen der zehn Teile, ohne die großen musikalischen Gegensätze von Heiterkeit und Melancholie, Ruhe und Spannung oder Harmonie und Dramatik zu vernachlässigen. Der hervorragende Umgang mit Kompositionstechniken wird dank eines schlanken Klangbildes, also ohne romantischen Pomp, glasklar herausgearbeitet. So wird der doppelte Kontrapunkt in den Variationen 1, 4 und 5 sehr deutlich wie die scherzoartige Handschrift der sechsten Variation, der Siciliano-Rhythmus des darauffolgenden Satzes, die komplexe Kontrapunktik der letzten Abwandlung und die 17 Variationen in der finalen Chaconne als Prinzip der Variationsform in einer Variation. Diese Haltung Jurowskis mutet an wie seine ganz persönliche Hommage an Brahms, indem er ihn als Meister der ganz hohen Kompositionskunst zu Wort kommen lässt. Chapeau!

Nach dem Tod Ludwig van Beethovens waren die damaligen Komponisten der Meinung, dass es das damit war in sinfonischer Hinsicht. Denn seine neunte Sinfonie galt als Gipfel, der nicht erklommen werden konnte. Doch Franz Schubert traute sich, brauchte aber rund zweieinhalb Jahre, bis er die letzte Note seiner letzten, der Großen C-Dur-Sinfonie zu Papier gebracht hatte. Auch sie war etwas vollkommen Neues, und sie war wegweisend. Wurden bei Beethoven Stadien des Kampfes und des inneren Konflikts mit sich und anderen geschildert, sind es bei Schubert nun Episoden und Landschaften, die erlebt und durchwandert werden. Und genau darum geht es Jurowski an diesem Abend. Er lässt das Orchester in Klangbildern schwelgen. „Wienerisch“ kommt das Hornthema in der Andante-Einleitung daher. Einsam „wandert“ die Oboe im Andante, zu der sich die Trompete hinzugesellt und den Marsch bläst. Eine ausgelassene Praterlaune kommt im Scherzo entgegen. Dagegen geht es fromm-schwelgend im Trio zu. Kaffeehausmusik macht sich breit im Finale. Das ist ganz große Klasse, wie der Dirigent und die städtischen Sinfoniker solche und andere Schilderungen mit großen musikalischen Spannungsbögen über die Bühne bringen.

Bescheiden ist der Auftritt Dmitri Jurowskis, schnörkellos, doch stets bestimmt und in allen Belangen präzise sein Dirigat. Darauf achtet das städtische Orchester sehr konzentriert und spielt folglich so gut wie an diesem Abend möglich nuanciert auf. Es klappte aber nicht alles das, was von einem Klangkörper der Kategorie A erwartet werden kann. Orchesterdirektor Raimund Kunze entschuldigt vor Konzertbeginn diese missliche Situation mit einem plötzlich eingetretenen hohen Krankheitsstand, geschuldet Corona und Grippe. Ruckzuck mussten Aushilfen verpflichtet werden. Dieses Manko ist hörbar, weniger bei Meyer an kleinen einer Handvoll Stellen und Schubert, etwa beim ein wenig holprigen Übergang vom Scherzo zum Trio. Bei der feinen Interpretation der Haydn-Variationen muss man sich etliche Stellen „schön“ zurechthören, wenn Orchestergruppen in sich nicht homogen sind oder Einsätze wackeln.

Dennoch sind die langanhaltenden stehenden Ovationen zum Schluss nach Schubert wegen der packenden C-Dur-Vorstellung berechtigt. Und es bleibt die Hoffnung, dass es nicht Jurowskis letztes Gastdirigat hier ist. Falls beim nächsten Mal das Sinfonieorchester Wuppertal gesund und munter ist und vielleicht sogar die seit langer Zeit vakanten Stellen glücklich besetzt sind inklusive erfolgreicher Probezeit, wird ein weiteres Konzert mit ihm sicher ein noch größeres Erlebnis sein.

Hartmut Sassenhausen