O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Ohrenschmaus aus Osteuropa

EIN FEST FÜR DIE OHREN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
10. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Start-Festival, Historische Stadthalle Wuppertal

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin – kurz RSB – feiert am 29. Oktober Punkt 20 Uhr einen runden Geburtstag. Denn dann wurde vor genau 100 Jahren in Berlin die erste Musikstunde in den Äther geschickt. Damals hörte man nur den legendären Musikinstrumentalisten Otto Urack. Weitere Musiker gesellten sich nach und nach hinzu, bis 1925 die Sendung sinfonische Züge annahm und folglich am 18. Juni dieses Jahres das RSB als Berliner Funk-Orchester gegründet wurde. Musikliteratur von der Vorklassik bis zur Moderne gehören seitdem zu seinem Repertoire. Ein Schwerpunkt liegt auf Werken des letzten Jahrhunderts. So standen etliche Komponisten von Rang und Namen selbst am Dirigentenpult: etwa Paul Hindemith, Sergei Prokofjew, Richard Strauss, Igor Strawinsky, Peter Maxwell Davies, Peter Ruzicka oder Heinz Holliger. Ausnahmslos waren großartige Musiker wie Eugen Jochum, Sergiu Celibidache, Hermann Abendroth, Rafael Frühbeck de Burgos und Marek Janowski seine Chefdirigenten. Seit 2017 ist der russische Dirigent Vladimir Jurowski deren Nachfolger, der seinen Vertrag bis 2027 verlängert hat und parallel dazu seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München ist. Nahtlos scheint er an die Erfolge seiner Vorgänger anzuknüpfen. Zu dieser Überzeugung gelangt man jedenfalls bei dem Gastspiel vom RSB und Jurowski in Wuppertals Historischer Stadthalle im Rahmen des Start-Festivals der Kulturabteilung der Bayer-Werke, gleichzeitig eine Zwischenstation ihrer Konzertreise. Obwohl Jurowski in Moskau letztes Jahr wegen seiner scharfen Kritik am russischen Überfall auf die Ukraine als persona non grata gilt, setzt er sich weiterhin für die Musik aus seiner Heimat ein. Denn nicht das Land, sondern Präsident Wladimir Putin ist für die Zustände verantwortlich. Also sind drei wichtige Werke von dort mit im Gepäck.

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Los geht es mit Modest Mussorgskys sinfonischer Dichtung Eine Nacht auf dem kahlen Berge, die eigentlich „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge“ heißt. Was in Deutschland am Blocksberg los ist, geschieht auch im slawischen Raum auf dem Lyssaja gora, dem kahlen Berg. Davon gibt es mehrere. Die Versammlung der Hexen dort vertonte der Komponist. Das Werk ist das wohl bekannteste Beispiel russischer Programm-Musik des 19. Jahrhunderts. Unter Jurowskis umsichtigem, verlässlichem und präzisem Dirigat intonieren die Sinfoniker diesen Hexen- und Geisterspuk mit einer passend sonor-wuchtigen Tongebung selbst im lautesten Tutti jederzeit detailliert durchhörbar. So wird der Ablauf der Geschehnisse vom unterirdischen Lärm der Geisterstimmen, deren Erscheinung und die des Satans, dem dann gehuldigt wird, über die Feier der Höllenmesse bis zum Hexensabbat packend und leicht nachvollziehbar zu Gehör gebracht.

Auch Sergei Prokofjews dritte Sinfonie in c-Moll, opus 44 kommt wie aus einem Guss daher. Sie wird leider am seltensten von seinen sieben Sinfonien aufgeführt. Vielleicht liegt es an seiner nicht immer leicht zugänglichen Tonsprache. Der Komponist selbst äußerte sich einmal sehr zufrieden mit dieser Tonschöpfung: „Mir scheint, dass es mir in dieser Sinfonie gelungen ist, meine musikalische Sprache zu vertiefen.“ Dem RSB gelingt es jedenfalls, das komplexe, harsch instrumentierte Werk mit seinen vielen Themen und Motiven aus der erst nach seinem Tod uraufgeführten Oper Der feurige Engel verständlich zu vermitteln. Denn die Bedrohung, Unruhe, Leidenschaft im ersten Satz, die meditativen, fragilen, grüblerischen Eigenschaften im Andante, etwa die gruseligen Effekte der Streicher im sich anschließenden dritten Teil und im Finale die Verwendung musikalischen Materials der vorherigen Sätze werden gestochen scharf, mit festem Zugriff und einem großen musikalischen Bogen über das gesamte Werk fein abgestuft hochspannend wiedergegeben.

Im Mittelpunkt steht Dmitri Schostakowitschs zweites Cellokonzert in g-Moll, opus 126. Er schrieb es im Jahr seines 60. Geburtstags, dem er eher missmutig entgegen sah. Die schlimmsten Repressalien hatte er zwar hinter sich. Doch er wusste ganz genau, dass dieselben Leute, die ihn früher bedrohten und demütigten, ihm nun in der Post-Stalin-Zeit als musikalisches Aushängeschild Russlands mit oberflächlichen Elogen huldigen würden. So dominieren von Anfang an dunkel gefärbte Töne. Brutale Züge nimmt die Solokadenz ein, gestört von dumpfen Trommelschlägen. Dem Thema des zweiten Satzes liegt das Volkslied Bubliki – kauft Kringel, warme Kringel – zugrunde. Er bezieht sich damit auf seine 1928 entstandene Oper Die Nase, in der er es erstmalig zitierte. Hier singt es eine Frau doppeldeutig: Bietet sie Backwerk feil oder ihre sexuellen Dienstleistungen? Augenblicklich wird sie von Polizisten vergewaltigt. Mit kernigen Fanfaren und Trommelwirbel geht es danach nahtlos ins Finale. Hier zieht sich das Solo-Cello trotz heroischer Orchesteranstachelungen lieber in eine in sich gekehrte Parallelwelt zurück. Grotesk verzerrt kommt Bubliki nun daher. Dann verklingt das Konzert leise. Mit diesem Ende meint Schostakowitsch wohl, dass er den Geburtstagsapplaus nicht braucht. Das Werk ist außerdem ein Musterbeispiel für seine meisterhafte späte Orchestrierungskunst in Form von überwiegend kammermusikalischem Umgang mit großen Bestzungen. Das Konzert ist sinfonisch konzipiert. Mal tritt das Soloinstrument als solches in den Vordergrund, mal integriert es sich in den Orchesterklang, dann wiederum geht es vielschichtige Dialoge mit dem Klangkörper ein.

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Schostakowitschs fein ziselierte Orchesterhandhabung, die differenziert durchstrukturierten Streicher- und Bläserapparate, die vielschichtigen Harfenklänge und das rhythmisch komplexe Schlagwerg bringen die Sinfoniker mustergültig über die Bühne. Außerdem kann Ivan Karizna dank des sensiblen Dirigats von Jurowski seinen teils spieltechnisch hochgradig schweren Cellopart mit großen Spannungsbögen lupenrein gestalten. Doch seine hohe Virtuosität ist nie Selbstzweck, sondern vielmehr ein Rüstzeug, um den heterogenen Notentext tief ausloten und die gedankenreichen musikalischen Inhalte plausibel vermitteln zu können. Das gelingt dem erst 31-jährigen Solisten bewundernswert erstklassig mit einer bereits großen geistigen Reife. Poetisch-singende, in allen Registern äußerst variable Töne lässt er aus dem Tassini-Cello von 1760 kommen, das vor ihm der legendäre Cellsit Paul Tortelier spielte. Chapeau! 1992 in Weißrussland geboren, genoss er bis zu seinem 17. Lebensjahr die traditionelle musikalische Schule. Anschließend wechselte er ans Pariser Konservatorium und die Kronberg-Akademie in Deutschland. Er ist Preisträger namhafter Wettbewerbe wie des Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau, des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel oder des Guilermina Suggia-Wettbewerbs in Porto. Mit renommierten Orchestern hat er inzwischen zusammengearbeitet. Aufgrund des umwerfenden Eindrucks, den Karizna bei seinem Wuppertaler Debüt hinterlassen hat, kann getrost prognostiziert werden, dass sein Name in der Klassikszene bestimmt bald in aller Munde sein wird.

In weiser Vorahnung hat der Veranstalter das Konzert mit der Überschrift Ein Fest für die Ohren angekündigt. Denn genau dazu ist es gekommen. Dementsprechend wird der gehaltvolle Abend im leider nicht vollen Großen Saal von begeistertem Beifall begleitet, der in stehende Ovationen nach dem letzten Ton mündet. Ergo bleiben Zugaben nicht aus. Karizna bedankt sich für den frenetischen Applaus und die Jubelrufe mit Johann Sebastian Bachs Sarabande aus der ersten Cellosuite in G-Dur, BWV 1007. Selten zuvor hat man das Stück live derart betörend sinnlich gehört. Der Dank des RSB und Jorowskis ist der schwungvolle Vortrag von Prokofjews Marsch aus seiner Oper Die Liebe zu den drei Orangen.

Hartmut Sassenhausen