Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
AUFERSTEHUNG
(Gustav Mahler)
Besuch am
20. November 2023
(Wiederholung des Konzerts vom 19. November 2023)
Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal
Über die erste Veranstaltung des Wuppertaler dritten Sinfoniekonzerts dieser Spielzeit, das ausverkauft gewesen sein soll und wohl umjubelt war, gab es Äußerungen in Superlativen. Etwa „Patrick Hahn gelingt ein großer Wurf“ oder „Das Sinfonieorchester, die Chöre und die Solistinnen waren unter der Leitung von GMD Patrick Hahn grandios“. Und weiter: „Morgen Abend noch einmal. Wer‘s heute nicht gehört hat, sollte unbedingt hingehen.“ Also lässt man sich nicht zweimal bitten, verlässt trotz tristen Schmuddelwetters die Wohnung, erklimmt den Johannisberg, sorgt für einen ausverkauften Großen Saal der Historischen Stadthalle und spendet ebenfalls enthusiastisch nach rund 90 Minuten Musik am Stück nicht enden wollende stehende Ovationen. Grund dafür ist die Aufführung der zweiten Sinfonie von Gustav Mahler, die für Furore sorgt.
Dieses Opus in c-Moll, bekannt als Auferstehungssinfonie, gehört neben nur ganz wenig anderen mit zu der größten dieser Gattung in der Musikgeschichte hinsichtlich Orchesterbesetzung und Dauer. Normale Orchester der Gattung A und B müssen tief in die Tasche greifen. Denn ihre Planstellen reichen nicht aus, um solche Mammutwerke zu präsentieren. So musste im Vorfeld auch das Sinfonieorchester Wuppertal Aushilfen bestellen, um der ungewöhnlich großen Bläser- und Schlagzeugbesetzung gerecht zu werden. Ferner werdem statt einer zwei Harfen verlangt. Üblich ist des Weiteren eine große Streicherbesetzung mit mindestens 16 ersten Geigen. An diesem Abend beschränkt man sich aber auf die reguläre 14-er Besetzung des städtischen Orchesters. So ist sie gerade dann zu leise, wenn ihr an lauten Stellen der Komponist eine Hauptrolle zugedacht hat. Ein großer Chor ist vorgesehen. Also kooperieren zwei Gesangsensembles bei dem Projekt. Außerdem sind zwei Gesangssolistinnen mit dabei. Kurzum: Auf der vergrößerten Orchesterbühne und dem Chorpodium dahinter versammeln sich rund 200 Personen. Es ist Patrick Hahn, Wuppertals 28-jähriger Generalmusiker, der dank seiner präzisen Stabführung die zahlreichen Sinfoniker und vielen Choristen bis auf rund eine Handvoll kleiner Stellen zu einem synchronen Musizieren verhilft und für präzise Einsätze verantwortlich zeichnet.
Foto © Holger Talinski
Neben dem erwähnten Jubel gibt es aber auch Stimmen, die nicht ergriffen sind, schließlich nachdenklich von dannen ziehen. Ihnen fehlt etwas. Sie haben nicht Unrecht, wenn man die Partitur liest. Auch kann es nicht schaden, ein von Mahler verfasstes Programm zu studieren. Anlass war die Aufführung der Sinfonie in Dresden am 20. Dezember 1901. Zweifellos legte Mahler mit dieser Zweiten konfessionsfrei ein Bekenntnis zu Glauben und Jenseits ab und setzte sich in diesem Zusammenhang mit den Problemen des diesseitigen Lebens auseinander. Die Auseinandersetzung mit Hoffnung spielt außerdem eine große Rolle.
Im als Totenfeier bekannten ersten Satz verarbeitete er folgende Fragen: „Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Male an unserem geistigen Auge vorüber. – Und nun in diesem ersten und im tiefsten erschütternden Augenblicke, wo wir alles Verwirrende und Herabziehende des Alltags wie eine Decke abstreifen, greift eine furchtbar ernste Stimme an unser Herz, die wir im betäubenden Treiben des Tages stets überhören: Was nun? Was ist dieses Leben – und dieser Tod? Giebt es für uns eine Fortdauer? Ist dieß Alles nur ein wüster Traum oder hat dieses Leben und dieser Tod einen Sinn? – Und diese Frage müssen wir beantworten, wenn wir weiter leben sollen.“ Die folgenden drei Sätze sind Intermezzi, in denen er das Leben des Toten, seine Gedanken und seinen Glauben Revue passieren lässt.
Zum Andante schrieb er: „Ein seliger Augenblick aus dem Leben dieses theuren Todten, und eine wehmüthige Erinnerung an seine Jugend und verlorene Unschuld.“
Ein Rondo schließt sich an, wofür er folgende Worte fand: „Der Geist des Unglaubens, der Verneinung hat sich seiner bemächtigt, er blickt in das Gewühl der Erscheinungen und verliert mit dem reinen Kindersinn den festen Halt, den allein die Liebe giebt, er zweifelt an sich und Gott. Die Welt und das Leben wird ihm zum wirren Spuck; der Ekel vor allem Sein und Werden packt ihn mit eiserner Faust und jagt ihn bis zum Aufschrei der Verzweiflung“. Seine Erklärung zum Mittelteil lautet: „Wenn du aus der Ferne durch ein Fenster einem Tanze zusiehst, ohne daß du die Musik dazu hörst, so erscheinen die Drehung und Bewegung der Paare wirr und sinnlos, da dir der Rhythmus als Schlüssel fehlt. So mußt du dir denken, daß einem, der sich und sein Glück verloren hat, die Welt wie im Hohlspiegel, verkehrt und wahnsinnig erscheint. – Mit dem furchtbaren Aufschrei der so gemarterten Seele endet das Scherzo“.
Seine Worte zum „Urlicht“ sind: „Die rührende Stimme des naiven Glaubens tönt an sein Ohr: ‚Ich bin von Gott, und will wieder zu Gott!‘ Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben, wird leuchten mir bis in das ewig’ seelig’ Leben!“
Zum Finalsatz bezog er ausgiebig Stellung: „Wir stehen wieder vor allen furchtbaren Fragen, und der Stimmung am Ende des 1. Satzes. – Es ertönt die Stimme des Rufers: das Ende alles Lebendigen ist gekommen, das jüngste Gericht kündigt sich an, und der ganze Schrecken des Tages aller Tage ist hereingebrochen. Die Erde bebt, die Gräber springen auf, die Todten erheben sich und schreiten in endlosem Zuge daher. Die Großen und die Kleinen dieser Erde, die Könige und die Bettler, die Gerechten und die Gottlosen – alle wollen dahin; der Ruf nach Erbarmen und Gnade tönt schrecklich da an unser Ohr. – Immer furchtbarer schreit es daher – alle Sinne vergehen uns, alles Bewußtsein schwindet uns beim Herrannahen des ewigen Gerichts. Der ‚grosse Apell‘ ertönt; die Trompeten aus der Apokalypse rufen; – mitten in der grauenvollen Stille glauben wir eine ferne, ferne Nachtigall zu vernehmen, wie einen letzten zitternden Nachhall des Erdenlebens! Leise erklingt ein Chor der Heiligen und Himmlischen: ‚Auferstehen, ja aufersteh’n wirst du!‘ Da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz – Alles ist stille und selig! – Und siehe da: Es ist kein Gericht – Es ist kein Sünder, kein Gerechter – Kein Großer und kein Kleiner – Es ist nicht Strafe und nicht Lohn! Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seligem Wissen und Sein!“
Foto © Holger Talinski
Nimmt man sich diese Gedankenwelten des Komponisten zu Herzen, die eindeutig im Notentext erkennbar sind, reicht es nicht aus, wenn das Wuppertaler Sinfonieorchester mit großartigen Klangbildern fasziniert. Um die Komplexität an musikalischen teils miteinander verwobenen Strukturen, die große Linienführung sämtlicher wichtigen Instrumentalsoli, das aufgewühlte emotionale Hin und Her, Auf und Ab , die Stimmführungen durch die Orchestergruppen hindurch, die changierend wie fließenden Dynamiken mit einem großen Atem verständlich zum Erklingen zu bringen, ist selbst im Tutti wie im Forte eine nuancierte Ausarbeitung der Haupt-, Neben- und Begleitstimmen notwendig. Auch müssen nicht alle Taktschläge präzise wie ein Schweizer Uhrwerk ablaufen. So kommen an diesem Abend etwa im Binnensatz die ostinaten Sechszehntelbewegungen exakt wie im Gleichschritt daher. So kann schwer der Eindruck entstehen, dass sie das Gewimmel an Fischen symbolisieren sollen, wie es im Wunderhornlied Des Antonius von Padua Fischpredigt vorkommt, das Mahler hier musikalisch verarbeitete.
Dennoch: Das Sinfonieorchester Wuppertal spielt bestens disponiert auf. Auch die Interaktion zwischen den Musikern auf der Bühne und in der Ferne ist mustergültig. Für die Stimme, die das Urlicht-Lied vorträgt, erbat sich Mahler: „Dazu brauche ich […] die Stimme und den schlichten Ausdruck eines Kindes, wie ich mir ja, vom Schlag des Glöckleins an die Seele im Himmel denke, wo sie im ‚Puppenstand‘ als Kind wieder anbeginnen muß.“ Diesem Wunsch wird Mezzosopranistin Karen Cargill voll gerecht. Ihre ergreifende Stimme rührt an. Der Konzertchor Wuppertal und die Kartäuserkantorei Köln – vortrefflich von Thorsten Pech und Paul Krämer vorbereitet – lassen keine Wünsche offen. Als harmonisches Ganzes singen sie die Vertonung der ersten beiden Strophen des Auferstehungs-Gedichts von Friedrich Gottlieb Klopstock vom zarten Beginn a cappella bis hin zum gewaltig strahlenden Finale ausgesprochen tief nachempfunden beseelt und variabel im Ausdruck. Hinzu gesellt sich mit ihrem hellen, klaren Sopran Julie Adams. Sie und Cargill integrieren sich sensibel, wie vom Komponisten vorgeschrieben, in den Chorklang und treten erst wie notiert am Ende der jeweiligen Passagen solistisch-ergreifend-klar daraus hervor. Außerdem faszinieren beide Gesangssolistinnen als ein kongeniales, ausdrucksstarkes Duett.
An diesem Abend scheiden sich die Geister. Während ein Großteil der Besucher der effektvollen Klanggewalt und bombastischen Orchesterwucht frönt, sind andere nicht selig. Denn ihnen fehlt die tiefe Auslotung der sehr emotionalen, vielschichtigen wie aussagekräftigen Musiksprache Gustav Mahlers.
Hartmut Sassenhausen