O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Daniel Senzek

Aktuelle Aufführungen

Engel weinen

ANGEL’S BONE
(Du Yun)

Besuch am
1. September 2023
(Premiere)

 

Oper Wuppertal, Alte Glaserei

Zu Beginn einer neuen Spielzeit das eigene Haus erst mal für zwölf Wochen schließen zu müssen, damit Wasserschäden behoben werden können, gehört sicher nicht zu den größten Vergnügen eines Opernintendanten. In Wuppertal erweist es sich für die neue Intendantin, Rebekah Rota, geradezu als Glücksfall. Denn so stellt sich gar nicht erst die Frage, ob man mit einer Oper auch in eine andere Spielstätte gehen darf, obwohl es doch ein Opernhaus gibt. Und das Stück, mit dem Rota die neue Spielzeit eröffnet, dürfte auf einer regulären Schaukastenbühne sicher nicht die Wirkung entfalten, mit der sie das Publikum in der Alten Glaserei beeindruckt.

Mit Angel’s Bone, Engelsknochen, präsentiert die Wuppertaler Oper ein Werk der Komponistin Du Yun und des Librettisten Royce Vavrek, das am 6. Januar 2016 beim Prototype Festival in New York uraufgeführt wurde. Die Geschichte ist schnell erzählt: Engel landen ziemlich mitgenommen im Garten eines Ehepaars, das ihnen nicht etwa hilft, wieder zu gesunden, sondern sie nutzt, um mit ihnen Geld zu verdienen. Dass das nicht gut gehen kann, ist leicht abzusehen. Regisseurin Jorinde Keesmaat zieht alle Register, um fesselndes, unter die Haut gehendes Musiktheater zu zeigen. Das Fundament dafür legt Sammy van den Heuvel, der für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Er hat in der zugigen Fabrikhalle eine eigene Welt erschaffen. Herzstück ist ein T-förmiger Gittertunnel, der zugleich als Laufsteg funktioniert und in die Mitte der Halle hineinragt. Davor und dahinter ist Platz für drei Tribünen. Vor dem Laufsteg ist ein Podest aufgebaut. Am Ende steht ein alter Fernsehsessel. Auf der linken Seite ist auf einem weiteren Podest das Orchester untergebracht. Dahinter ist ein mehrstöckiges Gerüst aufgebaut, das später dem Chor Platz bietet. Der sorgt erst mal für einen offenen Beginn, indem er sich rund um den Käfigtunnel platziert und mit wortlosen Gesängen die Zuschauer begrüßt. An den Wänden sind riesige Leinwände aufgehängt, die nicht nur Raum für die deutschen Übertitel der englischsprachigen Aufführung bieten, sondern auch eindrucksvolle Projektionen vom Seelenleben der Mrs. X.E. zeigt, die Frouke ten Velden als Video- und Lichtdesignerin zaubert. In dieser Konstellation kann das Publikum ganz unmittelbar in das Geschehen eintauchen.

Foto © Daniel Senzek

In Wuppertal sind es gleich acht Engel, die im Garten der Familie X.E. landen. Für deren Bewegungsabläufe, die sich insbesondere im Käfig äußerst schwierig gestalten, hat Pascal Merighi eigens eine Choreografie entwickelt. So wie er auch den Chor äußerst gewissenhaft führt.

In diesem Rahmen kann Du Yun zeigen, dass sie tatsächlich etwas von Gesang versteht. Die Partien sind ebenso wie der Chorgesang durchaus anspruchsvoll geschrieben, was bei zeitgenössischen Opern inzwischen eher die Seltenheit ist. Und so kann Edith Grossman als Ehefrau nicht nur ihre Verzückung ausdrücken, als sie die Engel entdeckt, sondern nach deren „Vermarktung“ frisch vom Engel geschwängert auch die Seelenpein durchleben. Ihr Ehemann darf sein Verlangen, der Frau wieder zu gefallen, ebenfalls sängerisch anspruchsvoll zum Ausdruck bringen. Zachary Wilson gelingt das großartig. Als männlicher Engel hat Jason Lee in künftigen Vorstellungen durchaus gesanglich noch Optimierungspotenzial, während Anna Angelini als weiblicher Engel ihre Nöte nach der Vergewaltigung durchaus Gänsehaut erzeugend erklingen lässt, zumal sie sich dabei darstellerisch in einer Extremsituation bewährt. Gerben van der Werl als Erzengel, Marco Agostini in der Rolle des Fernsehsprechers, Banu Schult und Anna-Christina Heymann in weiteren Rollen überzeugen ebenfalls. Über den Chor in der Einstudierung von Ulrich Zippelius braucht man kein weiteres Wort zu verlieren. Schlichtweg begeisternd, was der Opernchor hier gesanglich wie darstellerisch präsentiert.

Foto © Daniel Senzek

Nicht nur gesanglich, sondern auch musikalisch vermag Du Yun zu überzeugen. In Vielfalt elektronisch zugespielter Musik, orchestralen Klangs und Dramatik bietet sie all das, was man sich von einer zeitgenössischen Oper wünscht, wenn man darüber hinwegsieht, dass hier und da eine mehr gesamtorchestrale Leistung vielleicht noch mehr Wirkung gezeigt hätte. Aber im Vergleich zu dem, was dem Publikum ansonsten im modernen Musiktheater geboten wird, erlebt man hier eine neue Dimension, bei der man die Romantik nicht einen Moment vermisst, stattdessen aber immer wieder von neuen Einfällen mitgerissen wird. Ja, es gibt auch zeitgenössische Oper, bei der man auf der Stuhlkante sitzt. Johannes Witt, der das Orchester durchaus kraft- und druckvoll dirigiert, ist seit 2021 als Erster Kapellmeister bei den Wuppertaler Bühnen beschäftigt. Zuvor hat er knapp 150 Aufführungen als Kapellmeister am Aalto-Theater in Essen geleitet. Da kann er – diese Spitze sei hier erlaubt – dem designierten „Chefdirigenten“ der Deutschen Oper am Rhein in der Nachbarstadt Düsseldorf sicher noch so einiges beibringen.

Man kann Rota zu diesem Einstand ohne Vorbehalt gratulieren. Nicht nur zu dem „Mut“, mit einer zeitgenössischen Oper in die neue Spielzeit zu starten. Dass es des Mutes bedürfe, die Werke lebender Komponisten auf die Bühne zu bringen, gerät ohnehin in jüngerer Zeit immer mehr zur Schutzbehauptung einfallsloser Intendanten und Veranstalter. Denn was in den Konzertsälen nach der Pandemie immer häufiger zu beobachten ist, gilt auch für die Premiere des heutigen Abends: Es gibt keinen freien Stuhl mehr im Saal. Gewiss mag den einen oder anderen zum Besuch getrieben haben, dass eine Oper zu erleben ist, die einen Pulitzer-Preis für Musik gewonnen hat.

Heute Abend jedenfalls versiegt nach einer atmosphärisch dichten und musikalisch packenden Aufführung der Applaus nicht, ehe der letzte Akteur von der Bühne gegangen ist. Und wenn sich der Erfolg der Premiere herumspricht, könnte es sogar passieren, dass jüngere Menschen von dem Gesamtkunstwerk Oper angelockt werden. Das wäre dann das Sahnehäubchen.

Michael S. Zerban